Elizabeth Ngari (Women in Exile), Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Goethe-Universität Frankfurt) und Noémie Adam Onishi (Women in Exile) *
Dieser Beitrag widmet sich der Frage der Externalisierung und Menschenwürde im Kontext von Asyl in Europa. Er geht von der Annahme aus, dass Verwaltungstechnologien, die die Unterbringung von Asylbewerber:innen mithilfe von Modellen räumlicher Segregation organisieren, in einer Logik der Externalisierung operieren. Diese Logik zielt auf die materielle Umsetzung der Separierung einer Bevölkerungsgruppe von der Mehrheitsgesellschaft ab. Asyl- und Migrationspolitik operieren in diesem Rahmen auf einer Matrix epistemischer, struktureller, symbolischer, materieller intersektionaler Gewalt.[1] Der „Flüchtling“ als Verwaltungsobjekt wird in diesem Zusammenhang geschaffen. Mediale, politische und wissenschaftliche Diskurse tragen wiederum zur Konstruktion der Repräsentationsfigur des Flüchtlings als Außen zur Mehrheitsgesellschaft bei, indem sie koloniale Stereotypen der Rassifizierung und Orientalisierung mobilisieren und diese in einer neuen historischen und gesellschaftlichen politischen Konjunktur neubesetzen. Der „Flüchtling“ wird so als Exteriorität zur Mehrheitsgesellschaft konstruiert.[2] Externalisierung fängt also nicht erst an, wenn Asyl in einen Drittstaat oder in koloniale Enklaven europäischer Länder (s. Ceuta und Melilla) ausgelagert wird, oder wenn binationale Verträge (s. Albanien, Tunesien) auf der Grundlage kolonialer oder imperialer geschichtlicher Verbindungen etabliert werden. Vielmehr nimmt Externalisierung bereits Gestalt an, in dem Moment, wo eine Bevölkerungsgruppe räumlich ausgesondert, sozial marginalisiert und im Sinne des demokratischen rechtlichen Gebots der Gleichstellung ungleich behandelt wird.
Den Wunsch nach einem „Leben in Würde“ äußern Personen, die Asyl suchen oder beantragen, häufig, wenn sie nach ihren derzeitigen Lebensbedingungen gefragt werden. Was bedeutet es, von Würde zu sprechen, wenn Gesetze zur Regelung von Asyl und Migration ein Leben in Würde verweigern? Wie wird der Anspruch auf Würde verwehrt, wenn Menschen, die Asyl beantragen, in „Flüchtlingsunterkünfte“ „ausgelagert“ oder auf Inseln „externalisiert“ werden? Dieser Beitrag widmet sich der Frage der Externalisierung und Menschenwürde im Kontext von Asyl in Europa. Er geht von der Annahme aus, dass Verwaltungstechnologien, die die Unterbringung von Asylbewerber:innen über Modelle räumlicher Segregation organisieren, in einer Logik der Externalisierung operieren. Diese Logik zeichnet sich durch die materielle Umsetzung der Separierung einer Bevölkerungsgruppe von der Mehrheitsgesellschaft über deren differentiellen Herstellung. Der „Flüchtling“ als Verwaltungsobjekt wird in diesem Zusammenhang geschaffen. Mediale, politische und wissenschaftliche Diskurse tragen wiederum zur Konstruktion der Repräsentationsfigur des Flüchtlings als Außen zur Mehrheitsgesellschaft bei, indem sie koloniale Stereotypen der Rassifizierung und Orientalisierung mobilisieren und diese in einer neuen historischen und gesellschaftlichen politischen Konjunktur neubesetzen. Der „Flüchtling“ wird so als Exteriorität zur Mehrheitsgesellschaft konstruiert.[3] Die Zuschreibung von sozialen und individuellen Eigenschaften, die eine Unterlegenheit gegenüber dem hegemonialen europäischen Subjekt konstruieren, wird über Merkmale der Andersartigkeit im Sinne religiöser, kultureller, ethnifizierter und rassifizierter Differenz hergestellt. Die Ausbeutung der Arbeitskraft wird in solchen Diskursen legitimiert, ebenso die Besetzung und Annexion von Territorien; die Bevölkerung wird separiert entlang hierarchisierter differentieller Merkmale, entlang der Achse HuMan[4] und entlang von Zonen des Seins und Nicht-Seins.[5] Die Extrahierung von Ressourcen und die Zerstörung kultureller, intellektueller und politischer Institutionen sowie Genealogien erfolgt aus der Perspektive einer in der institutionellen, politischen, kulturellen und sozialen Praxis kolonialer Hegemonie verwurzelten Verwaltung der Welt. Diese Wahrnehmung und Herstellung der Welt nimmt materielle Gestalt an und formt Existenzweisen[6] durch die epistemische Etablierung diskursiver Hegemonie, der militärischen Herstellung von Vormacht und der verwaltungstechnischen Organisation einer differentiellen, hierarchisierenden Bevölkerungspolitik.
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft manifestiert sich dies in der Organisations- und Verwaltungslogik der Kolonialität der Migration. Asyl- und Migrationspolitik operieren in diesem Rahmen auf der Matrix epistemischer, struktureller, symbolischer und materieller intersektionaler Gewalt.[7] EU-Migrationspolitiken, wie Susanne Schultz[8] festhält, sind an der Reproduktion von Modalitäten und Technologien rassistischer Differenzierungspolitiken beteiligt. Personen, die Asyl beantragt haben oder sich im Asylverfahren befinden, erfahren diese staatliche Differenzierungspolitik auf unmittelbar gelebte Weise. Ihnen ist die individuelle Wahl eines Wohnsitzes, solange sie sich im Asylverfahren befinden, verwehrt. Ihnen werden gemeinschaftliche Wohnformen zugewiesen, die sie räumlich von der lokalen Bevölkerung segregieren und das liberale Prinzip nach individueller Autonomie und Privatheit zunichte machen.
Externalisierung fängt also nicht erst an, wenn eine extraterritoriale Auslagerung in einen Drittstaat oder in koloniale Enklaven europäischer Länder (s. Ceuta und Melilla) stattfindet, oder wenn binationale Verträge (s. Albanien, Tunesien) aufgrund kolonialer oder imperialer geschichtlicher Verbindungen etabliert werden. Vielmehr nimmt Externalisierung bereits in dem Moment Gestalt an, in dem eine Bevölkerungsgruppe räumlich ausgesondert, sozial marginalisiert und im Sinne des rechtlichen Gebots der Gleichstellung ungleich behandelt wird. Bereits die Einrichtung von „Flüchtlingsunterkünften“, so unsere Beobachtung, operiert in der Logik der Externalisierung.
Die Auseinandersetzung über Externalisierung verweist daher nicht nur auf die faktische geografische Auslagerung von Bevölkerungsgruppen im Rahmen von Kooperationsverträgen der EU mit Drittstaaten, um „Fluchtursachen zu bekämpfen“[9] oder im Rahmen des „Migrations-Entwicklungs-Nexus“.[10] Vielmehr reflektiert die Logik der Steuerung von Asyl das Vermächtnis eines kolonialen Verwaltungsdenkens, das ein minderwertiges Anderes imaginiert und als solches faktisch in den Kolonien oder in den Gebieten der Kolonialmacht räumlich, politisch und kulturell mittels rechtlicher, hierarchisierender Differenzierungsprozesse aussondiert. Geflüchtete Menschen und Menschen in Situationen prekärer Migration erfahren so die materiellen Effekte der Kolonialität der Macht. Die Organisation ihres Alltagslebens setzt ein Navigieren mit Verwaltungstechnologien voraus, die die Ausübung ihrer Menschenrechte erschwert bis hin zu verunmöglicht. Ihr Zugang zu im Grundgesetzt festgeschriebenen, fundamentalen Rechten, etwa das Recht auf gerechte Arbeit, Ausbildung, Gesundheitsversorgung, Wohnverhältnisse und politische Autonomie, wird durch migrationsrechtliche Maßnahmen und Gesetze verengt oder differentiell gesellschaftlich-normativ abgestuft. Der Status eines „Asylbewerbers“ oder einer „undokumentierten Migrant:in“, also einer Person, die sich in einer rechtlosen Situation als eingewanderter Staatsbürger:in befindet, stellt eine Exteriorität zu den Mitgliedern der bürgerrechtlichen Gemeinschaft dar. Die Zuweisung von Personen, die Asyl beantragen, auf räumlich ausgesonderte Gemeinschaftsunterkünfte weist auf institutionelle Praktiken und Regierungsweisen der Externalisierung hin, die in der historischen und gesellschaftlichen Verflechtung von modern-kolonialen Herrschaftsverhältnissen verfangen sind, welche als „minderwertige Andere“ markierte Bevölkerungsgruppen auslagern.
Lager – Auslagern – Lagerraum
Die von geflüchteten Frauen geführte Organisation Women in Exile verwendet den Begriff “Lager” anstelle des offiziellen Begriffs “Flüchtlingsunterkunft“, weil ersterer sowohl Lager als auch Lagerraum bedeutet und besser verdeutlicht, wie Personen, die sich im Asylverfahren befinden, untergebracht werden.[11] Die deutschen Asylunterkünfte sind seit den 1970er Jahren nach dem Vorbild von Lagern gestaltet, die groß, provisorisch und prekär sein sollen. Sie sind oft minderwertig und ähneln Lagerhallen. Die Lager verfügen in der Regel über gemeinsame Schlafräume, Badezimmer, Kinderbetreuung und Waschräume. Je nach Zweckbestimmung verfügen sie über eine Kantine oder Gemeinschaftsküchen. Sie verfügen über Büros für Sozialarbeiter:innen und Verwaltungspersonal sowie einen Zaun, der das Gelände umgibt, und eine Sicherheitskabine am Eingang. Seit 2016 wird das Lagersystem durch eine strengere Residenzpflicht verschärft, die die Reise- und Aufenthaltsmöglichkeiten für Asylbewerber:innen stark einschränkt.
In Brandenburg, wo Women in Exile vor allem tätig sind, befinden sich die Lager oft in abgelegenen Gebieten mit eingeschränktem Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, was für die Bewohner:innen eine Herausforderung darstellt. Women in Exile-Mitglied Cassie berichtet im Gespräch mit Elizabeth Ngari (Bethi) : „Es gibt hier [in Brandenburg] viel Rassismus. Wenn man als Schwarze Person allein an der Bushaltestelle steht, halten die Fahrer nicht an, so dass man eine weitere Stunde auf den nächsten Bus warten muss, der vielleicht auch nicht hält.“ Um Geld zu sparen und mobiler zu sein, entscheiden sich viele Asylbewerber:innen daher dafür, zu Fuß über Landstraßen ohne Bürgersteig in die Städte zu gelangen. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern sind schwierig. In Brandenburg sind oft mehrere Hundert Asylbewerber:innen untergebracht, nur in einigen wenigen sind es weniger als 100. Die Asylbewerber:innen sind außerdem gezwungen, Zimmer mit Fremden zu teilen, in denen sie mit bis zu sechs Personen, manchmal auch mit Kindern und Babys, zusammengepfercht sind. In den Lagern fehlt es an Privatsphäre und zudem sind sie oft unhygienisch, da es schwierig ist, die Sauberkeit in den Gemeinschaftseinrichtungen aufrechtzuerhalten. Diese Bedingungen führen zu täglichen Konflikten und anderen Schwierigkeiten unter den Bewohner:innen. Daisy, eine Bewohnerin mit Diabetes, berichtet Bethi: „Dinge, von denen ich dachte, sie seien persönlich, sind es nicht mehr, wie z. B. das tägliche Spritzen von Insulin vor den Augen der anderen, mit denen ich ein Zimmer teile. Das verwehrt mir meine Privatsphäre […] Manchmal frage ich mich, was wäre, wenn ich arbeiten und Miete bezahlen könnte wie jede andere Frau in dieser Gesellschaft?”
Die Lager sind nicht die einzige Art und Weise, in der Personen, die im Asylverfahren stecken, ihrer Menschlichkeit beraubt werden. Eine weitere Form der Externalisierung erfolgt über die Verwaltung der Asylunterstützung als Integrationsmaßnahme. Im Rahmen des Programms „80-Cent-Jobs“, das mit dem Integrationsgesetz 2016 eingeführt wurde, werden Personen, die als „Asylbewerber:innen“ kategorisiert sind, für Aufgaben wie Wäsche waschen, putzen oder Essen servieren in Lagern für eine Entlohnung von unter einem Euro die Stunde eingestellt. Dieser Lohn ist niedriger als der von Strafgefangenen und liegt 2024 deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 12,41 Euro pro Stunde in Deutschland. Eine Verweigerungshaltung gegenüber dieser Integrationsmaßnahme kann zu einer Geldstrafe führen. Zurzeit gibt es Bestrebungen, dieses Modell auszuweiten und es als verpflichtend für alle erwachsenen Asylbewerber:innen, die in Lagern leben, zu etablieren.
Im November 2023 führte die deutsche Regierung ein Bezahlkartensystem für Asylbewerber:innen ein, das Bargeldleistungen ersetzt. Dieses neue System ähnelt den Gutscheinen, die zuvor verwendet wurden. Beide Systeme spiegeln das Misstrauen des Staates in die Art und Weise wider, wie Asylbewerber*innen ihr monatliches Taschengeld (413€ bis 460€ im Jahr 2024) ausgeben, welches sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Im Jahr 2018 sagte uns eines unserer Mitglieder: „Mit den Gutscheinen kann ich nur Lebensmittel und Hygieneartikel kaufen, aber keine Kleidung oder andere Dinge. Und ich kann nur bei Lidl und Aldi einkaufen, die im Zentrum sind. Ich habe kein Geld für eine Fahrkarte, so dass ich gezwungen bin, eine sehr lange Strecke zu laufen, was mich noch mehr belastet.
Das neue Debitkartensystem steht vor ähnlichen Herausforderungen, und Brandenburg ist eines der ersten Bundesländer, das es einführt. Die Aussondierung und somit Externalisierung von Menschen aus den basalen grundgesetzlichen Regeln für ein geregeltes und sicheres Leben negiert ihren gleichwertigen Status als Mensch und Staatsbürger:in und somit als gleichgestelltes Mitglied der Gesellschaft.
Würde
Die Kategorie des „Asylbewerbers“ bestimmt die staatliche Regulierung des Lebens und der Mobilität der Lagerbewohner:innen. Der liberale Freiheitsbegriff, der durch das Recht auf Individualität und den Anspruch auf Privatsphäre gekennzeichnet ist, wird hier außer Kraft gesetzt. Das Lager manifestiert die Kehrseite der Moderne, nämlich die der Kolonialität. Sie geht aus einer Geschichte des Lagers, der Einkerkerung und des Einsperrens hervor, die mit kolonialen Herrschaftsformen[12] verbunden ist. Wie Michel Agier in einer Studie über Flüchtlingslager argumentiert, sind sie durch „die Verknüpfung von Krieg und humanitärer Aktion” geprägt, in denen das Leben „auf Distanz zur normalen sozialen und politischen Welt gehalten wird.“[13] Als solche stellen sie Labors der „groß angelegten Segregation”[14] von Menschen dar. Zugleich sind Lager auch das, was Simon Turner und Zachary Whyte als „carceral junction“[15] bezeichnen: ein Raum, der durch das Paradoxon von Mobilität und erzwungener Unbeweglichkeit bestimmt ist. So widerstehen die Menschen, die zwangsweise in diesen Lagern eingesperrt sind, dem Versuch der Verunmöglichung eines selbstbestimmten und gemeinschaftlichen Lebens, indem sie Gemeinschaften der gegenseitigen Fürsorge und kollektiven Unterstützung schaffen. Es ist diese Praxis, die die Würde der Menschen in den Lagern wiederherstellt. Denn die Politiken der Segregation und Ausgrenzung von Menschen, deren Leben durch Technologien der Kontrolle und der Verhinderung von Migration geprägt sind, dienen nicht der Achtung der Würde eines Menschen. Wenn über die Würde eines Menschen gesprochen wird, beziehen wir dies auf das Recht aller Menschen, unabhängig von ihrem rechtlichen, politischen und sozialen Status mit Respekt behandelt zu werden. In demokratischen Gesellschaften stellt die Würde einen grundlegenden, politisch-moralischen Wert dar. Sie bekräftigt den Anspruch eines jeden Menschen auf gegenseitige Achtung und Anerkennung als Person mit Rechten (und Pflichten).
In der abendländischen Philosophie wird die Würde mit dem willensstarken, unabhängigen und souveränen Subjekt in Verbindung gebracht. Von der Antike bis zur europäischen Moderne wurde das ethische Prinzip der Würde mit der Figur des imperialen Herrschers, des Adligen oder des bürgerlichen, wohlhabenden, weißen europäischen Mannes in Verbindung gebracht. Im Römischen Reich war Würde eng verbunden mit dem Status eines Herrschers. Wenn Marcus Tullius Cicero 44 v. Chr. in seinem Traktat De Officiis (Über die Pflichten, über die Verpflichtungen oder über die moralische Verantwortung) die Würde diskutiert, geht es ihm nicht um ein moralisch-politisches Recht auf ein würdiges Leben. Vielmehr, wie Oliver Sensen feststellt, stellt „dignitas“ im antiken Rom einen politischen Begriff dar.[16] Es konnotiert die „herausgehobene Position oder den höheren Rang der politisch Mächtigen in der Gesellschaft.”[17] Würde war mit Pflichten verbunden, mit der Verwirklichung der eigenen politischen Berufung oder der Vertretung eines offiziellen Führungsamtes. Unser Verständnis von Würde als moralisches Konzept wird viele Jahrhunderte später von Immanuel Kant eingeführt. Kant formuliert Würde als ethische Verpflichtung gegenüber der Betrachtung des Menschen als Zweck und niemals bloß als Mittel.[18] Für Kant beinhaltet die Würde eines Menschen einen unvergleichlichen Charakter und ist nicht austauschbar oder veräußerbar gegenüber Dingen – oder Tieren.[19] Kants Unterscheidung zwischen dem Menschen, den Tieren und den Dingen ist in einem cisheteropatriarchalen kolonialen Skript eingeschrieben, in dem der Mensch (HuMan) durch den weißen, wohlhabenden europäischen Mann repräsentiert wurde. In jüngerer Zeit wurde diese Perspektive in der Moralphilosophie von antikolonialen und dekolonialen Feministinnen und indigenen Kritikerinnen in Frage gestellt.[20] Indem sie die Würde im Sinne einer relationalen Ontologie diskutieren, lenken diese Perspektiven die Aufmerksamkeit auf das, was Sylvia Wynters Unterscheidung zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen oder Frantz Fanons Differenzierung zwischen der Etablierung von Zonen des Seins und Zonen des Nichtseins benennen.
Externalisierung und Menschenwürde
In seiner Analyse von Würde und Demütigung, die syrische Flüchtlinge in Deutschland, der Türkei und den Vereinigten Staaten erfahren haben, kommt Basileus Zeno zu dem Schluss, dass die Bezeichnung “Flüchtling” auf eine demütigende Erfahrung verweist.[21] In allen drei Ländern wurden syrische Flüchtlinge einem differentiellen Klassifizierungssystem unterworfen, das Asylsuchende in verschiedene rechtliche Kategorien unterteilt. Die Teilnehmer:innen von Zenos Forschung äußerten, dass diese Erfahrung für sie eine tiefe Entwürdigung und Abwertung als menschliche Wesen gewesen sei.
Der Begriff “Flüchtling” wurde in Europa als Schutzkategorie für Personen eingeführt, die vor Krieg und politischer Verfolgung im Ersten Weltkrieg flohen. Die Flüchtlingskommission des Völkerbundes 1921 führte die Kategorie des Flüchtlings ein, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) aufgenommen wurde. Am 10. Dezember 1948 in Paris wurde diese von der Versammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Im Artikel 14 legt diese Erklärung fest, dass (1) jeder Mensch das Recht hat, in anderen Ländern Asyl vor Verfolgung zu suchen und zu genießen, und dass (2) dieses Recht nicht geltend gemacht werden kann, wenn es sich um Verfolgungen handelt, die tatsächlich auf nichtpolitische Verbrechen oder auf Handlungen zurückzuführen sind, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen. Diesen Grundsätzen folgend wurde 1950 das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) gegründet, gefolgt von der Flüchtlingskonvention von 1951, die durch das Protokoll von 1967 ergänzt wurde und in dem Asyl als universelles Grundrecht und internationale Verpflichtung festgeschrieben ist. Dieses Datum markiert auch die Einbeziehung außereuropäischer Flüchtlinge in das universelle Recht auf Asyl. Es wurden drei Grundprinzipien für den Schutz von Flüchtlingen festgelegt: Nichtdiskriminierung, Nichtbestrafung und Nichtzurückweisung. Der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung bezieht sich auf jede Form der Ungleichbehandlung aufgrund von Geschlecht, Sexualität, Behinderung, Rassismus, Herkunftsland, Religion oder Alter.
In Zeiten zunehmender, moderner, kolonialer globaler Kriege, Genozide und politischer Konflikte ist das Recht auf Asyl als inhärenter menschlicher Wert an die moralisch-politische Verfassungsanerkennung der Menschenwürde gebunden. Im deutschen Fall ist der moralisch-politische Wert der Menschenwürde in der Verfassung des Nationalstaates verankert. Nach den Erfahrungen der Shoah und des Zweiten Weltkriegs enthält das deutsche Grundgesetz von 1949 in seinem ersten Artikel die Aussage “Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Die Menschen, die als „Flüchtlinge“ nach Deutschland kommen, erleben jedoch das Gegenteil. Konfrontiert mit verwaltungstechnischen sozialen Hierarchien und Mechanismen der Degradierung und des Ausschlusses von fundamentalen Menschenrechten als Asylsuchende und -antragsteller oder mit einem vorläufigen Flüchtlingsstatus, erleben sie, dass ihnen das Recht auf Menschenwürde streitig gemacht wird.
In Ländern wie Deutschland, Österreich, Schweden, den Niederlanden, Finnland und den USA haben rechtsextreme Diskurse Einzug in den politischen Diskurs gehalten. Dies spiegelt sich auch in der Verabschiedung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) durch die Europäische Kommission am 20. Dezember 2023 wider. Dieses System führt neue Regelungen zur Einschränkung des Asylrechts ein, indem es ein einheitliches Management der Grenz- und Einwanderungskontrolle innerhalb der Europäischen Union durch die Einführung einer Datenbank für Fingerabdrücke, die Verschärfung neuer Kontrollvorschriften an den europäischen Grenzen und die Schaffung einheitlicher Regeln für Asylanträge schafft. Zu diesen Maßnahmen gehört auch die Externalisierung von Grenzkontrollen, Flüchtlingsauffanglagern und Einwanderungsbehörden in Nordafrika, z. B. in Mauretanien und Ruanda, und in Osteuropa, z. B. in Albanien. Unter diesen Umständen hat der Begriff “Flüchtling” seinen moralphilosophischen und politischen Gehalt im Sinne der Menschenwürde eingebüßt. Er ist vielmehr zu einer Chiffre für die Einschränkung von Menschenrechten geworden. Die juristische Kategorie „Flüchtling“ ist heute mit der „Verdinglichung“ des Menschen im Kontext der Kolonialität von Migration verbunden. Denn durch die Asyl- und Migrationskontrollpolitik werden fundamentale Menschenrechte auf Ernährungssouveränität, Bildung, politische Teilhabe, soziales Wohlergehen, Sicherheit und gerechten Lebensunterhalt untergraben. Politische Aktivistinnen wie Women in Exile in Deutschland verweisen auf diese strukturelle Missachtung der Menschenwürde und der Menschenrechte geflüchteter Personen, insbesondere von Frauen*.
Brücken bauen: Women in Exile
Women in Exile & Friends formulieren Forderungen nach gerechten Lebensbedingungen für Menschen im Asylverfahren, z.B. das Recht auf selbstgewähltes Wohnen während der Bearbeitung des Asylantrags. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Organisation von asylsuchenden Frauen für asylsuchende Frauen viele Grenzen überschritten und viele Brücken gebaut. Seit ihrer Gründung 2012 werden regelmäßige Treffen nur für asylsuchende Frauen, die der Stärkung der Selbstbestimmung dienen, organisiert. In diesen Treffen wurden die Mitglieder eingeladen, ihre Erfahrungen in Worte zu fassen. So erzählt Mama, ein Mitglied von WiE, dass sie Blätter ausgehändigt bekam, um ihre „(…) Probleme aufzuschreiben: Ich schrieb über Duldung [eine geduldete Aufenthaltsgenehmigung, die abgelehnten Asylbewerbern erteilt wird, die nicht abgeschoben werden können]. Anhand der aufgeschriebenen Probleme lernten wir, welche Möglichkeiten es gibt, sie individuell zu lösen, und wie man sie gemeinsam politisch bekämpfen kann, weil alles miteinander verbunden ist.” Im Laufe der Jahre haben WiE auch von Expert:innen geleitete Workshops über staatliche Leistungen, Abschiebung, Krankenversicherung und andere relevante Gesetze für Asylsuchende entwickelt. Die Teilnehmer:innen können nach diesen Workshops Informationen besser einschätzen und kollektive Strategien des Widerstands entwickeln. Ein weiterer Schwerpunkt in der Arbeit ist die gesundheitliche Versorgung bei Fällen psychischer Erkrankung, die im Rahmen der Fluchterfahrung entstanden sind, insbesondere bei Neuankömmlingen. Mentor:innen bieten hier Rückhalt und Unterstützung.
Women in Exile arbeitet daraufhin, trotz der Erschwerung eines menschenwürdigen Lebens durch die Asylverfahrensverordnungen eine würdige Praxis des Zusammenlebens zu etablieren, die sich gegen strukturelle Formen der Externalisierung aus der Gemeinschaft der Bürger:innenrechte wendet. WiE leben ein würdiges Leben, indem sie ihr Wohlergehen selbst in die Hand nehmen. Um dies zu erreichen, unterstützen sie sich gegenseitig, indem sie sichere Räume für Heilung und selbstbestimmtes Leben schaffen. WiEs Erfolg beruht auf dem Austausch mit individuellen und kollektiven Erfahrungen mit Flucht, Exil und dem Umgang mit dem deutschen Asylsystem.
Nachwort: Rita, 1987 – 2019
Women in Exile widmet diesen Beitrag ihrer Schwester Rita Awour Ojungé, einer 32-jährigen Asylbewerberin, die am 7. April 2019 aus dem Lager in Hohenleipsisch, Brandenburg, verschwand. Obwohl Anwohner ihr Verschwinden meldeten, reagierte die Polizei nicht, bis das Netzwerk Druck machte. Ihre Leiche wurde drei Monate später mit Brandspuren nur 200 Meter vom Lager entfernt gefunden. Rita hatte sieben Jahre lang in Deutschland gelebt und zwei kleine Kinder zurückgelassen. WiE haben sie im Lager mehrmals besucht. Dieses liegt isoliert in einem Wald, ist mit Stacheldraht von der Außenwelt abgeschirmt und wird rund um die Uhr bewacht. Trotz des anhaltenden Drucks von WiE ist dieses Lager noch offen. Das beeinträchtigt die Zukunft der Kinder und die Chancen der Erwachsenen. Tragischerweise sind die polizeilichen Ermittlungen zu Ritas Tod ins Stocken geraten. WiEs Kampf für Gerechtigkeit geht jedoch weiter. WiE fordert die unverzügliche Aufklärung und rechtliche Verurteilung. Wir schließen uns ihren Worten an: „Wir werden Rita weiterhin gedenken und Veränderungen fordern. Gerechtigkeit für Rita jetzt! Alle Lager abschaffen! Schließt alle Lager!“
Fußnoten
* Wir danken Oscar Herzog Astaburuaga für die Übersetzung der ursprünglichen Texte ins Deutsche.
[1] Gutiérrez Rodríguez, Encarnación. 2023. Decolonial Mourning and the Caring Commons. Migration-Coloniality Necropolitics and Conviviality Infrastructure. New York: Anthem Press.
[2] Dussel, Enrique. 1995. The Invention of the Américas: Eclipse of “the Other” and the Myth of Modernity. Translated by Michael D. Barber. New York: Continuum.
[3] Dussel, Enrique. 1995. The Invention of the Américas: Eclipse of “the Other” and the Myth of Modernity. Translated by Michael D. Barber. New York: Continuum.
[4] Wynter, Sylvia. 2003. ‘Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, after Man, its Overrepresentation – An Argument’. The New Centennial Review 3, 3: 257-337.
[5] Fanon, Frantz. 2008 [1952]. Peau noire, masques blancs. Seuil. Translated as Black Skin, White Masks, Richard Philcox (trans), New York: Grove Books; und Maldonado-Torres, Nelson. 2007. “On the coloniality of being.” Cultural Studies 21(2-3): 240-270.
[6] Maihofer, Andrea. 1995. Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt/Main.
[7] Gutiérrez Rodríguez, Encarnación. 2023. Decolonial Mourning and the Caring Commons. Migration-Coloniality Necropolitics and Conviviality Infrastructure. New York: Anthem Press.
[8] Schultz, Susanne. 2023. Reproductive Racism: Migration, Birth Control and the Specter of Population. Vol. 1. Anthem Press.
[9] Kopp, Judith. 2023. Fluchtursachenbekämpfung: Umkämpfte Migrationspolitik im Sommer der Migration 2015. transcript Verlag.
[10] Lavenex, Sandra und Rahel Kunz. 2008. “The migration–development nexus in EU external relations.” European Integration 30.3: 439-457.
[11] Women in Exile 2022, Breaking Borders to Build Bridges 20 Years of Women in Exile. Münster: edition assemblage.
[12] Siehe hier Peters, Michael A. 2018. “The refugee camp as the biopolitical paradigm of the west”. Educational Philosophy and Theory 50 (13): 1165-68.
[13] Agier, Michel. 2002. ‘Between war and city: Towards an urban anthropology of refugee camps.’ Ethnography 3, no. 3: 317-41, hier S. 320.
[14] Ibid.
[15] Turner, Simon and Zachary Whyte. 2022. ‘Introduction: Refugee camps as carceral junctions.’ Incarceration: An international journal of imprisonment, detention and coercive confinement, April, https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/26326663221084591?casa_token=oMQ0fyBzLmAAAAAA:mPY7CGeG_wKKsn7wP1WlXArglIvtt_oPOE5t3IMVA4J4vqgcX5GT3JPwCib12yottAUCsUrY_GiIs14 (accessed July 2024).
[16] Sensen, Oliver. 2011. ‘Human Dignity in Historical Perspective: The Contemporary and Traditional Paradigms.’ European Journal of Political Theory, 10 (1): 71-91.
[17] Ibid, S. 312.
[18] Kant, Immanuel, 1785 [1996]. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga: Johann Friedrich Hartknoch. Translated as “Groundwork of The Metaphysics of Morals (1785)”, in Practical Philosophy, edited by Mary J. Gregor (ed.). The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant. Cambridge: Cambridge University Press.
[19] Siehe Sensen, Oliver. 2009. ‘Kant’s conception of human dignity’. Kant-Studien 100, pp. 309-331, hier S. 311.
[20] Lu-Adler, Huaping. 2023. Kant, Race, and Racism: Views from Somewhere. Oxford University Press; und Mejía, María Isabel. 2023. An intersectional decolonial feminist critique of Kant. Dissertation submitted to University of Illinois at Chicago.
[21] Zeno, Basileus. 2017. “Dignity and humiliation: Identity formation among Syrian refugees.” Middle East Law and Governance (9.3): 282-297.