Laura Lambert, Postdoktorandin, Leuphana Universität Lüneburg
Während europäische Debatten um die Auslagerung von Asyl oft von juristischen und ökonomischen Kritiken geprägt sind, ist in Afrika auch eine grundlegendere Rassismuskritik vernehmbar. Am Beispiel der Notfallevakuierungen aus Libyen in den Niger im Rahmen des Emergency Transit Mechanism (ETM) zeigt dieser Beitrag wie betroffene Geflüchtete und nigrische Beamt*innen den ETM als rassistisches und neokoloniales Projekt herausstellten und damit auf die Vision einer anderen Migrationspolitik, basierend auf einer Behandlung als Gleiche, verwiesen.
Einleitung
Gegenwärtige europäische Debatten kritisieren die Externalisierung von Asyl oft mit Blick auf die Verletzung der Menschen- und Verfahrensrechte der Asylsuchenden und die immensen Kosten dieser Verfahren. [1] Solche Kritiken liefern valide Argumente für tagespolitische Debatten, riskieren jedoch diese Politiken weiter zu normalisieren. So mögen sie es als legitim setzen, überhaupt die Kosten eines Asylsuchenden zu bemessen oder die Abschiebung in einen ‚sicheren‘ Drittstaat vorzunehmen, wenn denn dort das Asylsystem ‚funktioniert‘.
Eine wichtige Form der Auslagerung von Asyl in Drittstaaten im Globalen Süden stellen sogenannte Notfallevakuierungen dar. Sie sind ein Schutzinstrument für besonders vulnerable oder gefährdete anerkannte Geflüchtete mit einem „dringenden Resettlementbedarf“.[2] Das schließt Geflüchtete in Gefangenschaft ein. Sie sollen zuerst zu einem Transitort gebracht werden, wo ihr Resettlement organisiert werden kann.
Im Jahr 2017 schuf der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge mit europäischen Geldern den „Emergency Transit Mechanism“ (ETM), um Schutzsuchende aus den libyschen Foltergefängnissen zu befreien und sie in den westafrikanischen Niger zu bringen. Dort sollten ihre Asylbegehren geprüft und sie anschließend resettled werden. Zwei Jahre später folgte Ruanda, das seitdem zum Komplizen Europas bei der Externalisierung von Asyl geworden ist. Bis April 2024 sind im ETM knapp 6.500 Geflüchtete aus Libyen in die beiden Staaten evakuiert worden.[3]
Trotz dieser Schutzfunktion war am ETM im Niger eine grundlegendere antirassistische Kritik vernehmbar als oft in Europa. Basierend auf meiner ethnographischen Feldforschung im Niger von 2018-2019[4] zeige ich in diesem Beitrag wie afrikanische Beamt*innen und Migrant*innen ihr Unvernehmen mit der europäischen Auslagerung des Asyls äußerten und sie als rassistisches, neokoloniales Projekt herausstellten. Über Rassismuskritik und Widerstände gegen eine ungleiche Kooperation mit Europa und dem UNHCR versuchten die Beamt*innen und Migrant*innen eine neue Migrationspolitik, basierend auf der Anerkennung als Gleiche, zu gestalten. Ich gehe hier auf vier Aspekte ein: die Sichtbarmachung rassistischer Gewaltverhältnisse in Libyen, der Widerstand gegenüber humanitären Grenzen, der Einsatz für Souveränität und Migration als Dekolonialisierung. Von diesen Praktiken der Kritiken sollte, so argumentiere ich abschließend, Europa beim Versuch eine neue Migrationspolitik zu gestalten lernen.
Rassistische Gewalt sichtbarmachen
Im Jahr 2017 veröffentlichte CNN ein Video, in dem afrikanische Migrant*innen auf einer Sklavenauktion in Libyen als wichtigstes Transitland in Nordafrika versteigert wurden. Die Bestürzung war groß in Afrika und weltweit. Der nigrische Präsident Issoufou zeigte seine “tiefe Empörung” über diese „Praxis aus einer anderen Zeit“ und forderte politische Lösungen.[5] Zugleich war dieses Video nur die Spitze des Eisbergs. Zahlreiche Berichte belegten die Folter und Schutzgelderpressungen, der Migrant*innen in Libyen ausgesetzt waren. Sie belegten auch die Beteiligung Europas an dieser Gewalt. Libyen ist als Nadelöhr auf der zentralen Mittelmeerroute ein wichtiger Partner bei der Abwehr von Migrant*innen auf dem Weg nach Europa. Die Europäische Union unterstützt und finanziert die lybische Küstenwache, die Migrant*innen im Mittelmeer abfängt und in die Folterlager zurückbringt.[6]
Auf der Höhe des internationalen Entsetzens über diese durch Migrationsabwehr produzierte „Libyenkrise“ präsentierte der UNHCR den ETM als „Lösung“[7]. Der ETM sollte 3.800 der vulnerabelsten Schutzsuchenden aus den lybischen Lagern in Sicherheit in den Niger bringen. Dort sollten sie Asyl- und Resettlementverfahren durchlaufen und anschließend nach Europa und Nordamerika resettled werden. Der UNHCR sprach von einem „Korridor der Hoffnung“ heraus aus den Folterlagern.[8] Die Europäische Union finanzierte und bewarb das Projekt, denn es betonte mit seinem Schutzfokus doch die „Schokoladenseite“ in einer sonst von Repression dominierten Externalisierungspolitik, wie mir eine EU-Mitarbeiterin erklärte.
Die evakuierten Geflüchteten wehrten sich gegen diese Präsentation des ETM als „Lösung“ für die Gewalt in Libyen. Sie machten die Gewalt in den Asylinterviews und in Gesprächen mit Journalist*innen und Wissenschaftler*innen sichtbar. Eine von ihnen war Semret[9], eine junge Frau aus Ostafrika, die nach Libyen gegangen war in der Hoffnung Europa zu erreichen. Sie erzählte wie die libysche Küstenwache ihr Boot zurück nach Libyen schleppte und beschrieb das Lager, in dem sie und die anderen Insass*innen für Monate inhaftiert wurden, und die Gewalt durch ihre Peiniger. Dieses Lager war bekannt für seine grausamen Haftbedingungen. Wie die meisten der Evakuierten war Semret traumatisiert. Vermutlich war sie sich nicht der Rolle Europas bei den libyschen Migrationskontrollen bewusst. Externalisierungspolitiken setzen oft auf Intransparenz und Informalität, was ihre kritische Analyse erschwerte.[10] Doch für Semret war die Gewalt gegen Schwarze Migrant*innen, die sie in Libyen erlebt hatte, Unrecht.
In ihrer Kritik setzten die Evakuierten sich auch für weitere Evakuierungen aus Libyen ein. Einer von ihnen sagte: „Uns geht es gut, aber was ist mit unseren Landsleuten, die noch in Libyen sind?“ Sie kritisierten damit das unzureichende Ausmaß von Evakuierungen und den Fortbestand der Gewalt. Schätzungen zufolge waren zu jeder Zeit 5.000 Migrant*innen in libyschen Gefängnissen inhaftiert.[11] Jede Evakuierung schuf dort auch Platz für eine neue Inhaftierung.
In ihrer Kritik stellten die Evakuierten die erlebte rassistische Gewalt in Libyen heraus und setzten sich für die Evakuierung der noch Inhaftierten ein. Der ETM, von UNHCR und EU als „Lösung“ für die Gewalt in Libyen präsentiert, setzte diese fort und legitimierte sie als vermeintlich verfügbares Schutzangebot für eine Minderheit anstelle sie zu beseitigen.
Humanitäre Grenzen herausfordern
In ihrer Kritik wehrten sich die Evakuierten auch gegen ihr fortdauerndes Festhalten im Niger, 3000 km südlich von Europa, unter beschwerlichen Bedingungen.
Die Verantwortlichen des ETM hatten explizit ein afrikanisches Drittland zur Evakuierung aus Libyen gesucht und darauf verzichtet, Evakuierte in das für solche Zwecke errichtete Emergency Transit Centre Timișoara in Rumänien zu bringen. „Es ging auch darum, sie nicht nach Europa zu bringen“, erklärte mir ein UNHCR-Mitarbeiter. „Dort wären sie weitergereist oder hätten Asyl beantragt.“ Mit Evakuierungen in den Niger konnte demgegenüber eine räumliche Kontrolle der Migrant*innen ausgeübt werden. Aus diesem Land südlich der Sahara konnten sie nur beschwerlich nach Europa gelangen. Sie mussten dafür oft mehrere Tausend Euro aufbringen und erneut die Gewaltverhältnisse in Libyen passieren.
Semret und die anderen Evakuierten hatten in Libyen zu ihrer Evakuierung in den Niger zugesagt, nachdem der UNHCR ihnen zugesichert hatte, dass es sich dabei bloß um „Transit“ handelte, um einen temporären Aufenthalt mit zeitnahem Resettlement nach Europa oder Nordamerika. Als ich Semret kennenlernte, wartete sie allerdings bereits seit über einem Jahr in der Hauptstadt Niamey auf die Asylentscheidung. „Warum bin ich hier? Es ist zu viel. Dieses Land ist nicht gut.“, kritisierte Semret. „Der UNHCR sagte uns es ist nur Transit. Ich hatte kein Interesse daran, in den Niger zu kommen. Mein Plan war es, das Meer nach Europa zu überqueren.“
Mündlich hatte der UNHCR Semret und ihre Freund*innen darüber informiert, dass die nigrische Asylbehörde ihre Asylverfahren negativ beschieden hatte. Nun warteten sie seit Monaten auf den schriftlichen Bescheid, um in Berufung gehen zu können. Ein Freund von Semret sagte: “Wie kann es drei Monate dauern, um ein Blatt Papier zu bekommen? Wir sind verantwortlich [für unsere Familien]. Auch wir haben ein Leben.” Gelegentlich kamen UNHCR-Mitarbeitende zu ihnen in die Unterkunft und baten sie um „Geduld“, aber die beunruhigten Asylsuchenden fühlten sich nicht über ihren individuellen Fall informiert. Deshalb versuchten sie insgeheim, Journalist*innen und Forscher*innen wie mich zu mobilisieren, um für sie Druck zu machen.
Dieses Warten bedeutete auch ein Ausharren in Prekarität in einem Kontext der Unterentwicklung. So sagte mir eine UNHCR-Verantwortliche im Niger: „Wir sind hier im ärmsten Land der Welt. Natürlich ist ein Geflüchteter hier nicht glücklich. Es gibt nicht einmal Arbeit für einen Nigrer.“ Auch wenn die Versorgung für die Evakuierten durch den UNHCR deutlich besser war als für andere Geflüchtetengruppen im Niger, blieb sie ungenügend. Gerade an Gesundheitsversorgung, Hygieneartikeln und Kleidung mangelte es Semret. Sexarbeit war eine der wenigen Möglichkeiten etwas hinzuzuverdienen. Das hatte im muslimisch geprägten Niamey zu einer erhitzten öffentlichen Debatte geführt und den UNHCR unter Druck gesetzt. Semret rechtfertigte das: „Frauen müssen hier rausgehen und schlechte Dinge tun und dann mag das der UNHCR nicht. Aber was sollen sie denn tun?” Solange die humanitäre Versorgung ungenügend blieb und sich die Verfahren hinzogen, ging Semret die nötigen Schritte, um ihre Bedarfe sicherzustellen.
Gleichzeitig betonten Semret und ihre Freund*innen die Verantwortung des UNHCR für sie: “Der UNHCR brachte uns hierher. Er spielt mit uns. Wir können nichts tun. Wir sind in den Händen des UNHCR.“, sagte mir Semret. Ihr Freund nickte: „Es ist wie Pingpong. Wir sind der Ball und der UNHCR ist der Spieler. Der UNHCR kümmert sich nicht um Geflüchtete.“ Mehrere Dutzende von ihnen organisierten eine Demonstration im Botschaftsviertel und ein Sit-in vor dem UNHCR, um die Bearbeitung ihrer Fälle und Resettlement zu fordern. Die Demonstrierenden hielten Transparente mit der Aufschrift „Wir brauchen Lösungen“, „Wir appellieren an die Gerechtigkeit“, „UNHCR, keine Diskriminierung“ und „Wir sind Opfer“. Der Protest wurde von der nigrischen Polizei mit Tränengas zerstreut.
Semret und andere Evakuierte kämpften für die versprochene Umsiedlung nach Europa und eine Verbesserung ihrer Versorgung. Damit widersetzten sie sich der humanitären Grenze, die ihnen Versorgung im Niger versprach, um ihre Mobilität einzuhegen. Diesen Praktiken der Kritik von Geflüchteten ist bisher kaum Beachtung geschenkt worden.
Souveränität behaupten
Mit Andauern des ETM regte sich auch unter den nigrischen Beamt*innen Widerstand.
Der Niger war 2017 das einzige afrikanische Land, das bereit war den ETM zu beherbergen. Dieses Modellprojekt polierte international seinen Ruf als humanitäres Aufnahmeland auf. Seit 2015 hatte der Niger in der Kritik gestanden ein „Grenzsoldat Europas“ zu sein, der die westafrikanische Bewegungsfreiheit im Gegenzug für europäische Gelder über Gebühr beschnitt. Neben Reputationsgewinnen versprach der ETM zusätzliche Infrastrukturen und Mittel. Zahlreiche andere afrikanische Länder lehnten eine Beteiligung ab. Erst 2019 folgte dann Ruanda zu einem Zeitpunkt als eine weitere Beteiligung des Nigers angesichts der vielen Probleme längst unsicher geworden war.
Aufgrund dieser Vorreiterrolle hatten die nigrischen Zuständigen große Verhandlungsmacht bei der Ausgestaltung des ETM. Zu dieser Zeit sprach Frankreich als eine der treibenden Kräfte öffentlich von der Errichtung eines „Hotspots“ in Niamey. Damit gemeint waren, in Anlehnung an die griechischen und italienischen Inseln, ein Büro der französischen Asylbehörde OFPRA in Niamey zu errichten. Dort sollten französische Beamt*innen Asylverfahren durchführen und den Flüchtlingsstatus vergeben. Dies lehnten nigrische Politiker*innen vehement ab. Sie sahen im Hotspot-Modell eine Verletzung ihrer nationalen Souveränität. Stattdessen setzten sie durch, so berichtete mir ein französischer Beamter, dass die Evakuierten das nigrische Asylverfahren durchlaufen und im Falle einer Anerkennung durch den Niger der UNHCR ihr Resettlement prüfen würde. Durch seine starke Verhandlungsposition im ETM konnte der Niger den Einfluss Frankreichs zurückdrängen und stattdessen die eigene Asylverwaltung und den UNHCR als zuständig erklären. Statt europäischer Beamt*innen waren es nun die nigrischen Asylbeamt*innen, die die Asylentscheidungen trafen, gefolgt vom UNHCR und europäischen Resettlement-Missionen, die gelegentlich nach Niamey kamen.
Diese und weitere Regeln wurden vertraglich festgehalten, jedoch schnell vom UNHCR unterwandert und teils abgeändert. So gab es eine Obergrenze für die Zahl der Evakuierungen, die der UNHCR jedoch schnell überschritt. Er argumentierte, es handelte es sich um einen Notfall und die Rettung von Menschenleben in Libyen. Dieser Vertragsbruch löste unter den zuständigen nigrischen Beamt*innen Unverständnis und Frustration aus. Eine Beamtin kritisierte mir gegenüber: “Das ist nicht seriös. Normalerweise wird ein Schriftstück respektiert. Es ist ein Vertrag.“ Die Beamtin, die Monate mit der Verhandlung des Vertrags zugebracht hatte, kritisierte damit die informelle Praxis des UNHCR, außervertragliche Lösungen ohne Zustimmung zu suchen.
Ihre Empörung wuchs als der UNHCR die Zuständigkeit für die meisten Asylentscheidungen an sich zog. Nach sechs Monaten, in der die nigrische Asylbehörde zuständig gewesen war, hatte der UNHCR den Eindruck die Verfahren würden zu langsam bearbeitet. Der UNHCR überzeugte den Innenminister stattdessen selbst die Fälle zu bearbeiten und im Falle einer Anerkennung direkt resettlen zu können. Die zuständigen nigrischen Asylbeamt*innen empfanden dies als Entmachtung und Verletzung ihrer Souveränität. „Der UNHCR macht es an unserer Stelle!“, rief einer von ihnen. Sie blieben dennoch für die abgelehnten Fälle zuständig und mussten zudem auf die Zulagen für die Asylentscheidungen verzichten.
Angesichts dieser Frustration der nigrischen Beamt*innen bangten UNHCR-Vertreter*innen im Jahr 2019 um die Verlängerung des ETM. Nach 2 Jahren lief das ursprüngliche Memorandum aus und musste verlängert werden. Letztlich gelang es dem UNHCR jedoch, eine Verlängerung des ETM zu erwirken.
Im ETM kämpften nigrische Beamt*innen um ihren Einfluss und ihre Souveränität gegenüber EU-Staaten und dem UNHCR. Sie nutzten ihre Handlungsmacht, um die Herrschaftsansprüche insbesondere der früheren Kolonialmacht Frankreich zurückzuweisen und den UNHCR zum Respekt von Verträgen zu bewegen. Diese Handlungsmacht von führenden Beamt*innen in Drittstaaten ist bisher zu wenig in den öffentlichen Debatten und der Forschung zu Externalisierungspolitiken adressiert worden.
Migration als Dekolonialisierung
Unter den Geflüchteten und Beamt*innen blieb die Migration nach Europa ein Bezugspunkt.
Semret und einige ihrer Freund*innen erwogen, dem Warten ein Ende zu setzen und selbst den Niger zu verlassen. Semret sagte mir: „Libyen ist besser als der Niger […]. Warum haben sie mich aus Libyen hierhergebracht? Viele von uns wollen zurück nach Libyen.“ Davon gingen auch einige Beamt*innen aus. So sagte mir ein Zuständiger über die Wartenden: „Sie werden den Niger selbst verlassen, ohne dass wir es wissen. Sie werden die gleiche Route zurück nach Libyen nehmen.“ Im Jahr 2021 schlussfolgerte der UNHCR, dass die meisten Fälle mit langer Wartezeit „entscheiden das Center zu verlassen und schwer zu verfolgen sind“.[12]
In diesen Entscheidungen steckt die Handlungsmacht der Migrant*innen. Sie entschieden sich trotz der Risiken und Migrationskontrollen für eine Rückkehr nach Libyen und weiter nach Europa. Studien haben längst belegt, dass sich afrikanische Migrant*innen den Risiken ihrer Migration bewusst sind und diese angesichts der verbundenen sozialen Mobilität in Kauf nehmen.[13] Die UN-Rassismusbeauftragte und Rechtswissenschaftlerin Tendayi Achiume hat diese Migration als „Dekolonialisierung“ gefasst.[14]
Ähnliche dekoloniale Bestrebungen haben sich im Niger auch auf der Staatsebene verstärkt. Seit dem Putsch 2023 hat die neue Militärregierung deutliche antikoloniale Kritik an der westlichen Einflussnahme geäußert, ihre Militäreinheiten des Landes verwiesen und Kontakte mit Russland intensiviert. Als die EU das neue nigrische Regime nicht anerkannte und Hilfszahlungen einstellte, entkriminalisierte dieses Ende 2023 die Transitmigration, da das zugrundeliegende Gesetz „nicht die Interessen des Nigers und seiner Bürger einbeziehe“.[15] Seitdem werden wieder offiziell Migrant*innen durch die Sahara befördert. Die Europäische Union reagierte angesichts der erwarteten Migrationsbewegungen nervös.[16]
Trotz dieser belasteten diplomatischen Beziehungen mit Europa und das Ende einiger Projekte, hat die neue nigrische Regierung den ETM fortgeführt und der UNHCR seine Arbeit weitergeführt. Im Gegensatz zum Antimigrationsgesetz hat der ETM wohl nicht die gleiche Politisierung erfahren und lokale Interessen beschnitten.
Ein positives Verhältnis zur Migration als Abkehr von neokolonialen Machtverhältnissen fand sich so unter Geflüchteten und Beamt*innen und jüngst auch in der neuen Militärregierung.
Von der Grenze her denken
Vom Blickpunkt der betroffenen Geflüchteten und Beamt*innen im Niger ist eine grundlegendere Kritik an der Externalisierung des Asyl vernehmbar als oft in den europäischen Debatten.
Die selbstbewussten Forderungen der nigrischen Beamt*innen nach Souveränität wie auch die Widerstände der Geflüchteten gegenüber rassistischer Gewalt und humanitären Grenzen und ihre Bereitschaft Migration als Mittel der Dekolonialisierung anzuerkennen enthalten eine Forderung nach ihrer Behandlung als Gleiche. Diese Position ist mit einer europäischen Politik der Externalisierung des Asyls unvereinbar.
Gegenwärtig bleibt ungewiss, in welche Richtung sich der Niger und der Sahel allgemein weiterbewegen. Antidemokratische Tendenzen wie das Aussetzen von Wahlen und die Repression der Opposition und Journalist*innen sind mit Sorge zu betrachten.[17] Doch diese Praktiken verdeutlichen auch, dass die bisherige europäische Externalisierungspolitik – neben der Militärhilfe und Entwicklungspolitik – für die lokale Bevölkerung und Politik keine Lösung dargestellt hat. Der Sahel ringt in einer Polykrise um seine Zukunft. Seine Vergangenheit und Gegenwart waren von Migration geprägt. Seine Zukunft wird es mit großer Sicherheit auch. Eine Abkehr von den europäisch diktierten Migrations- und Asylpolitiken und der Versuch eigene Maßstäbe zu definieren ist nachvollziehbar.
Sie fordern auch Europa zum Umdenken auf. In den europäischen Politiken der Abwehr, den Booten und Foltergefängnissen der libyschen Küstenwache und den Transitlagern im Niger sitzen schlecht versteckt die europäischen Ängste um die Zukunft. Auch Europa ringt derzeit angesichts von Klimawandel und Kriegen um ein Projekt, das nachhaltig Wohlstand, Sicherheit und Frieden verspricht. Gewaltsame Abschottung scheitert nicht nur beständig in ihrer Umsetzung. Sie scheitert auch als nur vermeintlich einigendes Projekt zwischen dem Westen und dem Rest.
Ohne dem Versuch zu erliegen, diese gegenwärtigen Verschiebungen zu romantisieren, erlaubt die Forderung als Gleiche neue Bündnisse zwischen Afrika und Europa. Eine zeitgemäße Migrationspolitik sollte die Frage der Gleichheit behandeln, statt sich der Illusion hinzugeben, durch Abwehr und die Auslagerung von Flüchtlingsschutz in Drittstaaten die massiven globalen Ungleichheiten unserer Zeit und die mit ihnen verbundenen Migrationsbewegungen adressieren zu können.
Fußnoten
[1] Vgl. BBC (2024): What Is the UK’s Plan to Send Asylum Seekers to Rwanda? 13.06.2024. https://www.bbc.com/news/explainers-61782866.
[2] UNHCR (2011): Guidance Note on Emergency Transit Facilities. https://www.refworld.org/pdfid/4dddec3a2.pdf.
[3] UNHCR (2024): Flash Update. Emergency Transit Mechanism. April 2024. https://reporting.unhcr.org/niger-and-rwanda-emergency-transit-mechanism-etm-flash-update-8493.
[4] Lambert, Laura (2021): Extraterritorial Asylum Processing: The Libya-Niger Emergency Transit Mechanism. Forced Migration Review 68:18–21. Lambert, Laura (2020): Who is Doing Asylum in Niger? State Bureaucrats’ Perspectives and Strategies on the Externalization of Refugee Protection. Anthropologie et Développement 51:87–103.
[5] RFI (2017): Migrants vendus comme esclaves en Libye: Antonio Guterres “horrifié”. 21.11.2017. https://www.rfi.fr/fr/afrique/20171121-migrants-vendus-esclaves-libye-guterres-horrifie-issoufou-reactions.
[6] https://www.euronews.com/2019/11/03/eu-funds-libyan-coast-guard-but-has-limited-monitoring-capacity-leaked-report-suggests
[7] RFI (2017): Le HCR évacue des migrants africains de Libye. 13.11.2017. www.rfi.fr/afrique/20171112-hcr-evacue-migrants-libye-niger.
[8] Boyer, Florence, and Pascaline Chappart (2018): Les enjeux de la protection au Niger: Les nouvelles impasses politiques du « transit » ? Mouvements. http://mouvements.info/les-enjeux-de-la-protection-au-niger/
[9] Name und biographische Details wurden anonymisiert.
[10] Landau, Loren B (2019): A Chronotope of Containment Development: Europe’s Migrant Crisis and Africa’s Reterritorialisation. Antipode 51 (1): 169–186. DOI: 10.1111/anti.12420.
[11] UNHCR (2019): Desperate Journeys. January – December 2018. https://www.unhcr.org/desperatejourneys/
[12] Altai Consulting (2021): Case Study. Emergency Transit Mechanism. for EUTF. https://ec.europa.eu/trustfundforafrica/sites/default/files/etm_case_study_final.pdf, 24f.
[13] UNDP (2019): Scaling Fences: Voices of Irregular African Migrants to Europe. https://www.undp.org/publications/scaling-fences.
[14] Achiume, E. Tendayi (2019): Migration as Decolonization. Stanford Law Review 71 (1509).
[15] BBC (2023): Niger coup leaders repeal law against migrant smuggling. 28.11.2023. https://www.bbc.com/news/world-africa-67550481
[16] Zeit (2024): Der Weg durch die Wüste ist frei. 14.05.2024. https://www.zeit.de/2024/21/niger-migration-fluchtroute-agadez-putsch
[17] Freedom House (2024): Freedom in the World 2024. Niger. https://freedomhouse.org/country/niger/freedom-world/2024