Bernd Kasparek, Assistenz-Professor, Delft University of Technology und Vassilis S. Tsianos, Professor, Fachhochschule Kiel
Das Ruanda-Modell des externalisierten Asyls ist Ergebnis der Brexit-Konjunktur in Großbritannien. Aktuell erfährt es auch in migrationspolitischen Diskursen der EU Zuspruch. In diesem Beitrag legen wir dar, warum wir davon ausgehen, dass Modelle des ausgelagerten Asyls nicht in der Lage sein werden, die langanhaltende Krise des europäischen Migrations- und Grenzregimes zu beenden. Dies demonstrieren wir anhand der Geschichte des GEAS und Schengens. Anhand der Krise Schengens zeigt sich, dass sich zwischenstaatliche Kooperation im Einklang mit rechtsstaatlichen Prinzipien als hartnäckiges Problem der Migrationspolitik erweist. Wir zeigen, wie sich dies in die aktuelle Reform des GEAS eingeschrieben hat. Wir folgern, dass Kooperation und Verrechtlichung insbesondere für Externalisierungs-Modelle objektive Herausforderungen sind.
Mit der Niederlage der Konservativen Partei bei den Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich ist auch das Ruanda-Modell obsolet geworden. In einer seiner ersten Äußerungen als neuer Premierminister erklärte Keir Starmer den Versuch, nicht nur Asylverfahren, sondern auch die Aufnahme von anerkannten Schutzsuchenden in das afrikanische Land Ruanda auszulagern, für beendet.[1] Doch längst wurde der Vorschlag auch in Kontinental-Europa aufgegriffen, weshalb er nun in den Diskursen der europäischen Migrationspolitik weiterexistiert.
In diesem Beitrag möchten wir darlegen, wie sich aus der Geschichte des europäischen Migrations- und Grenzregime ergibt, dass die Externalisierung des Asyls durch so genannte Drittstaatsverfahren nicht in der Lage sein wird, die langanhaltende Krise der europäischen Migrationspolitik zu beenden. Vielmehr gehen wir davon aus, dass sie diese Krise verstärken, zur Stärkung der migrationsfeindlichen Rechten in Europa beitragen und Schaden an Demokratie und Rechtsstaat anrichten wird.
Externalisierungspolitiken haben das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) von Beginn an begleitet. Schon zu Beginn dieser Kooperation wurde der Vorschlag einer Auslagerung des Asyls in Drittstaaten diskutiert und verworfen. Das gegenwärtige Wiederauftauchen der Externalisierungspolitik im europäischen Diskurs folgt der einschneidenden Reform des GEAS, die im Frühjahr 2024 beschlossen wurde. Wurden die harten flüchtlingsrechtlichen Einschnitte der Reform vorher noch mit Hinweis auf deren Notwendigkeit begründet, um ein europäisches Asylsystem zu bewahren, wird es mittlerweile – trotz Verabschiedung durch Parlament und Rat – durch die Propagierung der Externalisierung grundsätzlich in Frage gestellt. Wie ist also die Forderung nach einer europäischen Variante des Ruanda-Modells zu bewerten?
Das Ruanda-Modell im Kontext des Brexit
Das Ruanda-Modell, wie es von der konservativen Regierung unter Premierminister Rishi Sunak propagiert wurde, kann nur im Kontext der spezifischen Brexit-Konjunktur verstanden werden. Die migrationsfeindlichen Diskurse, die dem Projekt des Brexit von Beginn an eingeschrieben waren, finden im Ruanda-Modell ihre Fortsetzung. Auffallend ist dabei vor allem das verzweifelte Festhalten an dem Modell wie auch die Vehemenz, mit der es durch Premierminister Sunak höchstpersönlich vorangetrieben wurde.
Das Verlassen der Europäischen Union hatte für Großbritannien nicht die versprochenen Vorteile gebracht. Vielmehr hatten die langen Verhandlungen um Zoll-, See-, harte und weiche Grenzen die Isolation Großbritanniens hervorgehoben und vertieft. Lediglich in einem Punkt erwiesen sich die Grenzen des Landes poröser als erhofft: Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union beendete auch schlagartig jegliche Kooperation in Sachen Migrations- und Grenzpolitik. Der Zugang zum Schengener Informationssystem (SIS) wurde gekappt, schwerwiegender erwies sich das Ende der Dublin-Kooperation. Forderungen der britischen Regierung an Frankreich, über den Ärmelkanal eingereiste Asylsuchende à la Dublin zurückzunehmen, wurden durch die französische Regierung zurückgewiesen.
Daraus resultierte die Regierungskampagne gegen die »small boats«, die kleinen Boote, mit denen vermehrt der Ärmelkanal überschritten wurde[2]. Quantitiv fiel diese Form der Asylmigration kaum ins Gewicht, denn die Nettomigration ins Vereinigte Königreich war mit dem Brexit drastisch angestiegen – ein weiteres gebrochenes Brexit-Versprechen. Dennoch erwies sich die Tatsache der unautorisierten und selbstorganisierten Migration erneut als Anlass, Migration zu skandalisieren und eine Kampagne (»Stop the boats«) zu starten. In ihrem Zentrum: Das Ruanda-Modell.
Die Hartnäckigkeit, mit der die Regierung Sunak immer und immer wieder versuchte, eine Asyl-Legislation zu verabschieden, die eine Weiterschiebung nach Ruanda ermöglichen würde, ohne dabei Grund- und Menschenrechte zu brechen, ist einmalig. Eine erste Umsetzung des Modells scheiterte am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), eine zweite am britischen Supreme Court, danach wurde, nicht zum ersten Mal, erwogen, sich aus der Europäischen Menschenrechtscharta zurückzuziehen oder zumindest die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung des Gesetzes einzuschränken. Der Schaden an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, den die Regierung Sunak sehenden Auges hinnahm, um eine vor allem symbolische policy durchzusetzen, ist bedenklich.
Symbolisch ist das Ruanda-Modell vor allem deswegen, weil sich schnell herausstellte, dass die ruandische Regierung doch nicht bereit, oder in der Lage war, mehrere Zehntausende Schutzsuchende aufzunehmen, wie es ursprünglich vereinbart war. Ein Regierungssprecher sprachen von »Tausenden«, die das Land aufnehmen könne.[3] Dies trotz schon geleisteter Zahlungen. Ende Juli 2024, nach dem Wahlsieg der Labour-Partei, gab die britische Innenministerin an, dass schon 700 Millionen Pfund ausgegeben wurden: für Charterflüge, Zahlungen an die Regierung Ruandas sowie für den hohen bürokratischen Aufwand, der mit der Umsetzung des Modells verbunden war.[4] Außerdem sei geplant gewesen, insgesamt zehn Milliarden Pfund für das gesamte Projekt bereitzustellen.
Auch wenn die neu gewählte Labour-Regierung das Vorhaben gestoppt hat, war der gesellschaftliche Schaden längst angerichtet. Anfang August kam es zu tagelangen, gewalttätigen rassistischen Ausschreitungen der englischen extremen Rechten an verschiedenen Orten in England. Asylunterkünfte und Moscheen wurden angegriffen, die Polizei konnte die Gewalt über eine Woche lang nicht stoppen.[5] Erst eine antifaschistische Mobilisierung setzte dem rechtsextremen Pogromen ein Ende.
Dennoch scheint die migrationspolitische Phantasie, Asylsuchende ließen sich beliebig hin- und herschieben, und dass es möglich sei, auf dieser Praxis eine nachhaltige und faire Migrationspolitik zu begründen, weiterhin verlockend. So meldete sich der umstrittene Migrationslobbyist Gerald Knaus vom Think Tank European Stability Initiative aktuell zu Wort.[6] Knaus hatte eine lange Zeit selber das Ruanda-Modell vertreten und auch in Deutschland Werbung dafür gemacht. Nun warb er für einen Plan, in dem eine Koalition von EU-Mitgliedstaaten – anstelle von Ruanda – alle Asylsuchenden aus Großbritannien aufnehmen soll, die über den Ärmelkanal eingereist sind. Im Gegenzug verpflichte sich Großbritannien, jährliche Kontingente aus genau diesen EU-Mitgliedstaaten aufzunehmen.[7] Es erschließt sich nicht, warum die Autor:innen des Vorschlags annehmen, gerade Dänemark könnte ein Kandidat für eine solche Kooperation sein. Diese Konstruktion ähnelt dem 1:1-Resettlement aus dem EU-Türkei-Deal, als dessen maßgeblicher Architekt Knaus gilt.[8] Scheinbar ist nun aber in Vergessenheit geraten, dass exakt die Resettlement-Komponente des Deals sich nicht umsetzen ließ. Mehr noch: die Geschichte der europäischen Asylkooperation zeigt, dass die Unmöglichkeit des Hin- und Herschiebens von Asylsuchenden im Rahmen des Dublin-Systems zentral für das Scheitern der europäischen Migrationspolitik ist. Dies legen wir nun anhand ihrer Geschichte dar.
Der Blair-Schily-Plan und Global Migration Governance
Die Idee, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern oder Schutzsuchende gar nicht erst bis nach Europa kommen zu lassen, ist ungefähr so alt wie das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Der Vertrag von Amsterdam, der die Migrations-, Asyl- und Grenzpolitiken vergemeinschaftete, war gerade erst in Kraft getreten und das GEAS war dabei, legislative Realität zu werden, als der damalige britische Premierminister Tony Blair 2003 eine Politik der Externalisierung des Asyls vorschlug.[9] Sogenannte Regional Protection Areas sollten Schutzsuchende in der Konfliktregion zurückhalten – es war die Zeit des 2. Irakkriegs – während jene, die sich dennoch auf den Weg nach Europa gemacht hatten, in so genannten Transit Processing Centres vor den Grenzen Europas aufgehalten werden sollten.[10] In diesen Zentren, die beispielsweise in Nordafrika entstehen sollten, würde dann auch ein Asylantrag entgegengenommen werden. Bei positivem Bescheid würde die Einreise in die EU erlaubt werden.
Tony Blair stand mit dieser Idee – es war auch die Zeit des sozialdemokratischen Dritten Weges in Europa – nicht alleine. Der deutsche Bundesinnenminister Otto Schily sowie sein italienischer Amtskollege Giuseppe Pisanu unterstützten den Vorschlag, der als Blair-Schily-Plan in die Geschichte des europäischen Grenzregimes einging. Der Plan scheiterte jedoch Ende 2004 im Rat der Innenminister:innen, da er keine Mehrheit fand.[11] Der Plan erwies sich vor allem als nicht praktikabel, da sich in Nordafrika keine Regierung finden ließ, die Interesse an einer solchen Kooperation hatte und gleichzeitig die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet und umgesetzt hatte.
Ein weiterer Faktor, der gegen den Blair-Schily-Plan sprach, war die grundlegend andere Perspektive der Europäischen Union auf den nordafrikanischen Rand des Mittelmeers. Anfang der 2000er Jahre, man möchte sagen auf dem Höhepunkt des europäischen Projekts, schien auch die Europäische Union noch von der Strahlkraft ihrer eigenen Vision überzeugt und verfolgte das Programm der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), also einer graduellen Inklusion der direkten Nachbarstaaten der EU unterhalb des Niveaus einer Voll-Mitgliedschaft.
Für Nordafrika äußerte sich dies im so genannten Rabat-Prozess, dem »Euro-African Dialogue on Migration and Development«, der formal 2006 beginnt, dessen Ausgangspunkt jedoch im Schengen-Beitritt Spaniens (1995) und Italiens (1997)[12] zu suchen ist. Die Schaffung einer harten Nord-Süd-Grenze im Mittelmeer zerschnitt einen Raum der Kommunikation, des Austausches und auch der Migration, der jahrehundertelang Bestand gehabt hatte. Der Rabat-Prozess mit seinem Fokus auf Migration stellte nun den Versuch dar, die Staaten Nordafrikas in das Projekt der Migrationskontrolle einzubeziehen. Der Fokus auf dialogische Formen und Konsultationsprozesse war der Einsicht geschuldet, dass der Erfolg einer gemeinsamen Migrationspolitik abhängig davon war, dass Migration auch als gemeinsamen Problem gesehen wurde. Dies war für die Staaten Nordafrikas jedoch nicht unbedingt der Fall: Diese sahen die Transitmigration nach Europa, oder auch die Arbeitsmigration in die libyschen Ölfelder nicht als Problem.
Teil der Konstruktion der Migration als gemeinsames Problem war eine neue Perspektive, die auf die Routen der Migration gerichtet war. Dieser Ansatz, exemplarisch in der Mitteilung Global Approach to Migration der Kommission[13] festgehalten, griff das Paradigma des migration management[14] erneut auf. Der Ansatz zielte auf die Herstellung eines transkontinentalen Migrations- und Asylregimes ab. Der Kommission schwebte ein regelbasiertes System der Verantwortungsteilung vor, welches langfristig dafür sorgen sollte, dass nur noch wenige Schutzsuchende die eigentlichen Grenzen der Europäischen Union erreichen würden. Auch diese Politik lässt sich als Externalisierung beschreiben. Sie unterscheidet sich jedoch durch ihren integrativen Ansatz, der eine global governance der Migration vorsah und diese auf Basis des internationalen Systems des Flüchtlingsschutz zu etablieren suchte.
Raum des Schutzes
Jenseits der Migrationsaußenpolitik sprachen auch interne Faktoren gegen den Blair-Schily-Plan. Das Jahr 2003 war in mehrfacher Hinsicht ein prägendes Jahr für das europäische Migrations- und Grenzregime. Denn es markierte den Start des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, deklariert als die Herstellung eines europäischen ›Raum des Schutzes‹. In diesem Jahr wurde die Eurodac-Verordnung verabschiedet, 2004 folgte die Dublin-II-Verordnung. Damit war das Herzstück des GEAS, also der Verteilungsmechanismus sowie dessen technischer Unterbau einer Fingerabdrucksdatenbank hergestellt.[15]
Dies stellte auch die grundlegende Entscheidung dar, die Möglichkeit einer Asylantragstellung innerhalb der Europäischen Union zuzulassen. Ziel des Dublin-Systems war es nicht, den Zugang zum europäischen Asylsystem zu versperren. Die Absicht war es, die mehrfache Stellung von Asylanträgen zu verhindern. Denn das Dublin-System ist keines, welches Geflüchtete in die EU-Mitgliedstaaten an der EU-Außengrenze abdrängen sollte, sondern eines, das den Erstkontakt und den Asylantrag zum entscheidenden Kriterium erhoben hat. Es ist nicht überraschend, dass gerade die zentraleuropäischen EU-Staaten und hierbei vor allem Deutschland, welches seit Anbeginn nachweislich von Dublin profitiert hat, bei der Reform des GEAS auf die Screening-Verpflichtung gepocht haben. Das GEAS, wie es Anfang der 2000er Jahre entstand, war auch als regelbasiertes System der Kooperation und Verantwortungsteilung konzipiert, welches gleichzeitig als Weiterentwicklung des Systems der Genfer Flüchtlingskonventionen für das 21. Jahrhundert dargestellt wurde.
2003 fand auch der EU-Gipfel in Thessaloniki statt, auf dem weitreichende Weichenstellung für das europäische Migrations- und Grenzregime vorgenommen wurden. Zwar war die Grenz- und Migrationspolitik durch Amsterdam vergemeinschaftet worden, es galt aber noch die fünfjährige Übergangsphase, in der Kommission und Parlament kein echtes Mitspracherecht in Grenz- und Migrationspolitik hatten. Der Rat der Innenminister:innen war jedoch nicht in der Lage gewesen, in den fünf Jahren seit dem Inkrafttreten von Amsterdam ein wirksames Modell europäischer Grenzschutzkooperation zu entwickeln. In Thessaloniki beauftragte der Europäische Rat daher die Kommission mit dieser Aufgabe. Bekannterweise wählte die Kommission die Form einer europäischen Agentur, welche als Grenzschutzagentur Frontex im Mai 2005 ihre Arbeit aufnimmt.[16]
So nimmt Mitte der 2000er Jahre ein spezifisch europäisches Migrations- und Grenzregime Form an. Dieses Regime entwickelt sich um die im Entstehen begriffene europäische Außengrenze. Für das Innen bedeutete es eine Peripherisierung des Asyls. Die EU-Mitgliedstaaten, die sowohl an der Außengrenze als auch auf den Routen der Migration gelegen sind und daher in der Regel in den Erstkontakt mit Schutzsuchenden traten, oblag es nun, die Mehrzahl der Asylverfahren durchzuführen. Um Europa herum sollte eine Nachbarschaft entstehen, die prospektiv in das Projekt der Migrationskontrolle einbezogen ist und langfristig selber zu Aufnahmestaaten für Schutzsuchende werden soll. Die Grenzen der Europäischen Union als Kontaktzone zur Migration sollte schrittweise europäisiert werden, was als Anpassung der Praxis der Grenzverwaltung verstanden wurde. Die Basis dafür war der Schengener Grenzkodex, der 2006 in Kraft trat und das Vehikel die Europäische Grenzschutz-Agentur Frontex. Letztere sollte die Mitgliedstaaten an der Grenze dabei unterstützen, die Schengener Standards umzusetzen und ihre Grenzverwaltung zu professionalisieren. Dies sollte die Integrität des Schengen-Raums ohne Binnengrenzkontrollen gewährleisten. Dazu gehörte auch das Unterbinden von Sekundärmigrationen innerhalb der Europäischen Union.
Dieses im Entstehen begriffene Regime stellt weder die grundlegenden Prämissen des internationalen Systems des Flüchtlingsschutz in Frage, noch zielt es per se darauf ab, irreguläre Einreise zum Zweck der Stellung eines Asylantrags zu unterbinden. Ganz im Sinne des Migrationsmanagements stand die Aushandlung und Etablierung gemeinsamer Modalitäten, verlässlicher Kooperation und geteilter Verantwortlichkeiten im Vordergrund. Als Schlüssel für dieses Unterfangen wurde der Einsatz neuester Technologie vorgesehen.[17] Verteilte Echtzeitdatenbanken, multimodale Überwachungssysteme, Methodologien und Praktiken des Risikomanagements sowie die Produktion und Verfügbarmachung von Wissen über die Modalitäten und Logistik der Migration sollten als soziotechnische Substrat das vorgeschlagene Regime plausibilisieren und möglich machen.
Die Krise Schengens
So zauberhaft und verlockend dieses Versprechens einer schönen neuen Welt des Migrationsmanagements und der global governance of migration in den 2000er Jahren gewirkt haben muss, so schnell geriet das noch im Aufbau befindliche System ab dem Jahr 2010 in eine Krise. Konfrontiert mit einer Welt, die gewaltvoller, kriegerischer, unwirtlicher und von zunehmenden Ungleichheiten geprägt war, erwiesen sich die Vorstellungen der 2000er Jahre als inadäquat.
Wir haben diese Krise als Krise Schengens diagnostiziert.[18] Im Wesentlichen koinzidiert sie mit der Euro-Krise, also der Krise der Staatsfinanzen in Europa.[19] Diese, sowie andere geopolitische Herausforderungen wie etwa die völkerrechtswidrige Annektion der Krim im Jahr 2014 überlagern die schleichende Krise Schengens. Der Sommer der Migration im Jahr 2015, der dem Höhepunkt der Schengener Krise gleichkommt, ist dabei gleichbedeutend mit einem Kollaps der meisten relevanten Instrumente und Politiken, die das europäische Grenzregime seit den 2000er Jahren hervorgebracht hat und welche es charakterisierten. Dabei ist es instruktiv, sich noch einmal mit den vier Kernelementen der Schengener Krise zu beschäftigen. Denn diese definieren auch heute noch die Parameter, innerhalb derer sich die europäische Migrationspolitik bewegen muss, um eine Lösung des vermeintlichen ›Migrationsproblems‹ zu finden.
Das erste Kernelement der Schengener Krise war der Zusammenbruch der Kooperation mit der Nachbarschaft der Europäischen Union. Der so genannte Arabische Frühling, also die sozialen und demokratischen Aufständen, die in Nordafrika ihren Ausgang nahmen, führten schnell zu einem sofortigen Kollaps des euro-mediterranen Grenzregimes. Es folgt eine turbulente Phase im Mittelmeer, die Charles Heller und Lorenzo Pezzani als »Ebbing and Flowing« beschrieben haben,[20] also eine beständige Pendelbewegung der mediterranen Migrationspolitik zwischen einer Ausweitung der Migrationskontrolle auf das Mittelmeer und einem Rückzug auf das Festland. Bis heute ringt die Europäische Union darum, das euro-mediterrante Grenzregime erneut zu etablieren. Die Unterstützung und Aufbau der so genannten Libyschen Küstenwache ist hier anzuführen, aber auch das im Jahr 2023 unterzeichnete Memorandum of Understanding mit Tunesien. Die Mittelmeergrenze ist weiter durch Volatilität gekennzeichent, lediglich die zivile Seenotrettung erweist sich als stabilisierendes Moment im Sinne einer Rettung von Menschenleben. Nach dem Putsch in Niger ist dem Grenzregime ein wichtiger Kooperationspartner auf einer zentralen Migrationsroute abhanden gekommen.[21] Der Plan der postfaschistischen italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni, nun in Albanien ein System externalisierter Lager zu errichten, muss auch unter diesen Vorzeichen einer gescheiterten Expansion des europäischen Grenzregimes nach Nordafrika gelesen werden.
Diese Entwicklung hatte sofortige Konsequenzen für den Schengen-Raum und stellte das zweite Element der Krise dar. Insbesondere die Staaten im Herzen Schengens, wie etwa Frankreich, die Niederlande und Deutschland reagierten auf die neuen Ankünfte im Süden der Europäischen Union mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Diese erfolgten zwar nicht immer im Einklang des Schengener Grenzkodex, der derartige Maßnahmen nur unter sehr engen Bedingungen zulässt. Sie folgen aber in der Tat der Logik des Schengener Systems, welches die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen durch eine verschärfte Kontrolle der Außengrenzen zu kompensieren suchte. Alle Versuche bisher, das Schengener System des Verzichts auf Binnengrenzkontrollen wiederherzustellen, sind gescheitert und Binnengrenzkontrollen haben sich als Mittel der Migrationskontrolle normalisiert.[22]
Die ersten beiden Elemente verweisen auf die Schwierigkeit, eine nachhaltige und vertrauensbasierte Kooperation herzustellen. Die nächsten zwei Elemente entfalten ihre krisenhaften Wirkung aus der Verrechtlichung sowohl des Dublin-Systems als auch der Außengrenze, die den Spielraum einer Migrationspolitik begrenzt.
Denn 2011 und 2012 kam es zu einschneidenden, höchstrichterlichen Entscheidungen, die die Parameter des Migrationsregimes neu bestimmten. Auf Grund des Spruches im Fall M.S.S. gegen Griechenland und Belgien des EGMR wurde Griechenland de facto aus dem Dubliner System ausgeschlossen. Die dem Dubliner System zu Grunde liegende Fiktion, dass wegen der Europäisierung die Schutzniveaus in den Asylsystemen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergleichbar seien, wurde durch das Urteil zerstört. Denn schon viele Jahre lang hatten sich Asylsuchende, die qua Dublin verpflichtet gewesen wären, ihr Asylverfahren in Griechenland oder Italien durchzuführen, gen Norden bewegt und dort weitere Asylverfahren begonnen.[23] In der Migrationspolitik werden diese EU-internen Mobilitäten von Schutzsuchenden als ›unauthorized secondary migration‹ problematisiert. Für das europäische Grenz- und Migrationsregime handelt es sich dabei um ein anhaltendes und hartnäckiges Problem: Das Unterlaufen der Dubliner Regeln durch die Schutzsuchenden selbst, die sich nicht der Logik des Erstkontakts unterwerfen wollten und damit das Versprechen Dublins ad absurdum führten. Nach unserem Dafürhalten ist das lange Scheitern der Dubliner Logik Kern der Überlegungen, die nun zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem führten. Screening-Verordnung, Grenzverfahren und grenznahe Inhaftierung sind ein erneuter Versuch, die Logik des Erstkontakts und die daraus resultierende Verantwortlichkeitszuweisungen durchzusetzen. Offensichtlich bestehen aber schon jetzt grundsätzliche Zweifel an der Tauglichkeit dieser Maßnahmen, weshalb nun Überlegungen, wie Schutzsuchenden der Zugang zu Europa ganz verwehrt werden kann, Konjunktur haben.
Diese Überlegungen stehen jedoch im Konflikt mit dem vierten Element der Krise Schengens: Die unerwartete Verrechtlichung der Meeresgrenzen. Im Hirsi-Urteil befand der EGMR 2012, dass auch ein Erstkontakt zwischen Schutzsuchenden und staatlichen Institutionen, der in internationalen Gewässern stattfindet, für letztere eine Verpflichtung im Sinne des internationalen Flüchtlingsschutz entfalten.[24] Die Rückschiebung von schutzbedürftigen Personen auf dem Mittelmeer, in diesem Falle nach Libyen, stellt damit einen Verstoß gegen das Refoulement-Verbot dar. Vielmehr müssen diese Personen ins Asylsystem überstellt werden. In Folge entfalteten sich intensive Rechtskämpfe[25] um diese Entscheidung, dennoch steht grundsätzlich fest, dass die einfache Zurückweisung von Schutzsuchenden an den Grenzen Europas aus juristischer Perspektive nicht zulässig ist. Die Konstruktion des Ruanda-Modells ist von dieser Beschränkung gekennzeichnet. Der juristische Kniff ist, dass es sich bei Ruanda um einen sicheren Drittstaat handle, weswegen die Überstellung ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit kein Refoulement darstelle. Das mehrmalige Scheitern des Ruanda-Modells in Großbritannien liegt aber genau im Zweifel der jeweiligen Gerichte an der Faktizität dieser Behauptung begründet.
Entrechtlichung nach dem Sommer der Migration
Zusammenbruch von Vertrauen und Kooperation sowie die neuen Parameter, die die Verrechtlichung Dublins und der Außengrenze hervorgebracht haben, bleiben auch heute die bestimmenden Koordinaten, an denen sich eine europäische Migrationspolitik orientieren muss. Die fast zehn Jahre lange andauernden Bemühungen um eine Reform des GEAS unterstreichen dies. Der Sommer der Migration, die Krise der europäischen Migrationspolitik 2015/16, äußerte sich im Kollaps der seit Amsterdam entwickelten Instrumente und Mechanismen. Die Kontrolle über die Außengrenzen, die lückenlose Registrierungen aller Ankommenden, das Dublin-System der Verantwortungsbestimmung konnten nicht gewährleistet werden. Dies resultierte in zwei verschiedene Politikansätzen.
Die Kommission hatte im Rahmen ihrer Europäischen Migrationsagenda im Mai 2015[26] den sogenannten Hotspot-Approach skizziert, der sich durch eine umfassende Registrierung der Ankommenden, deren schnellen Umverteilung innerhalb der EU sowie der forcierten Europäisierung durch den Einsatz europäischer Agenturen in den Hotspots auszeichnete. Damit adressierte sie die wesentlichen Aspekte der Krise Schengens, inklusive eines Vorschlags, wie Dublin zu einem fairen System der Verantwortungsteilung weiterentwickelt werden könnte. Die Kommission verfolgte die Strategie einer beschleunigten Europäisierung der Migrationspolitik.
Dieser Ansatz konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Die Krise des europäischen Migrations- und Grenzregimes wurde durch die koordinierte Schließung der innereuropäischen Routen, eine externe Kooperation mit der Türkei, sowie der Einrichtung von Zonen am Rande Europas, die aus dem Asylsystem ausgenommen waren, beendet.[27]
Dennoch blieb das Migrationsregime fragil, und zwar präzise entlang der Bruchlinien der Kooperation sowie der Verrechtlichung. Noch 2016 hatte die Junker-Kommission einen Vorschlag für die Reform des GEAS vorgelegt. Dieser scheiterte 2019, weil der Rat der Innenminister:innen sich auf keine gemeinsame Position einigen konnte. Dies ist zum einen durch den Aufstieg der migrationsfeindlichen Rechten in Europa zu erklären, die schon zu dem Zeitpunkt Einzug in nationale Regierungen gehalten hatte. Zum anderen gab es im Rat einander widerstrebende Positionen, die unvereinbar blieben. Drängten die Mitgliedstaaten im Süden auf eine Reform des Dublin-Systems, so bestanden die Staaten Zentraleuropas auf der Logik des Erstkontakts und suchten diesen im Süden, an der Außengrenze zu lokalisieren. Versuche, Kooperationen mit Ländern der europäischen Nachbarschaft zu etablieren, blieben fragmentarisch. Insbesondere das Verhältnis zur türkischen Regierung nach der Einigung auf den EU-Türkei Deal blieb volatil und entwickelte sich nie zu einer verlässlichen Kooperation – dies zeigte sich insbesondere im März 2020 an der Evros-Grenze zwischen der Türkei und Griechenland.[28]
In der Dimension der Verrechtlichung ergab sich eine Umkehr. Grenznahe Mitgliedstaaten setzten nach 2016 vermehrt auf Internierung, Pushbacks und andere Formen der Grenzgewalt. Bei Pushbacks handelt es sich um staatliche Maßnahmen, bei denen flüchtende und migrierende Menschen – meist unmittelbar nach dem Grenzübertritt – zurückgeschoben werden, ohne die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen oder dessen Rechtmäßigkeit gerichtlich überprüfen zu lassen. Pushbacks stellen Verstöße gegen eine Vielzahl gesetzlicher Normen dar, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention, die EU-Grundrechtecharta wie auch die Gesetze des GEAS.[29] Während manche Staaten versuchten, Pushbacks im nationalen Recht zu legalisieren, etablierten andere die Praxis heimlich und leugneten diese öffentlich.[30] Trotz vielfacher Dokumentation dieser Praxis für eine Vielzahl an europäischen Grenzen wurden diese nicht gestoppt. Insbesondere die Kommission weigerte sich, entschieden – etwa mit Vertragsverletzungsverfahren – gegen diese grundlegenden und staatlichen Verstöße gegen EU-Recht vorzugehen.
Anhand der europäischen Grenzschutz-Agentur Frontex lässt sich die Spannung zwischen europäischem Rechtsstaat und staatlicher Verbrechen in paradigmatischer Weise zeigen. Das Mandat der Agentur wurde 2016 wie auch 2019 massiv erweitert.[31] Auch ihr Budget erfuhr eine Steigerung, sollte die Agentur doch nun über eigene 10.000 Grenzschutzbeamt:innen verfügen können, die sogenannte Ständige Reserve. In ihren Einsätzen an den Grenzen Europas war die Agentur beständig mit der Realität des Gesetzesbruches durch nationalstaatliche Grenzschutzinstitutionen konfrontiert. Unter ihrem damaligen Exekutivdirektor Fabrice Leggeri entschied sich die Agentur, das Wissen um diese staatlichen Verbrechen zu ignorieren. Vielmehr leistete die Agentur diesen Praktiken Vorschub, in dem etwa Daten aus Überwachungssystemen weitergegeben wurden, die dann in einen Pushback resultierten. Die Agentur achtete lediglich darauf, weder direkt in solche Praktiken verwickelt zu sein, noch interne Aufzeichnungen zu diesen zu haben. Es erwies sich als extrem schwierig, die Agentur zu Rechenschaft und Transparenz zu zwingen.[32] Dieser Skandal führte erst im Frühjahr 2022 zum erzwungenen Rücktritt Leggeris.[33] Dieser sitzt seit 2024 für die die französischen Rechtsextremen um Marine Le Pens Rassemblement National im Europaparlament und verbreitet die rechte Verschwörungstheorie des Großen Austausches.[34]
GEAS-Reform und Externalisierung
Erst im Frühjahr 2024, also nach neun langen Jahren, konnte sich die Europäische Union auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems einigen. Diese umstrittene Reform ist schon vielfach analysiert worden. Wir fragen daher nur, in welcher Art die Reform die Probleme der zwischenstaatlichen Kooperation sowie die Herausforderung der Verrechtlichung adressiert. Die Reform nimmt im Wesentlichen die Form europäischer Verordnungen an. Diese sind direkt gültig und müssen im Gegensatz zu Richtlinien nicht in nationales Recht überführt werden. Dementsprechend schwinden auch die Spielräume nationaler Umsetzungen. Versprochen wird sich davon eine höhere Kohärenz und Homogenisierung des Migrationsregimes. Gleichzeitig sind die Verordnung nicht derart bindend, wie es zu erwarten wäre. Bezüglich der Verteilung von Schutzsuchenden in der Union steht es Mitgliedstaaten frei zu wählen, in welcher Form sie sich beteiligen, lediglich die Beteiligung selber ist bindend. Durch die Krisen-Verordnung wurden hingegen eine Reihe von Ausnahmetatbeständen geschaffen, die es Mitgliedstaaten erlauben werden, von den Vorgaben der Verfahrensverordnung – die das eigentliche Asylverfahren regelt – erneut abzuweichen.
Mit der Screening-Verordnung und den Grenzverfahren konnten sich die zentraleuropäischen Staaten erneut durchsetzen. Das Prinzip des Erstkontakts bleibt erhalten, und soll nun infrastrukturell an der Außengrenze Europas durchgesetzt werden. Screening und Grenzverfahren sollen unter haftähnlichen Bedingungen stattfinden. Aus Perspektive der Verrechtlichung sticht hervor, dass beide Verfahren auch unter einer Fiktion der Nichteinreise stattfinden.[35] Trotz der Anwesenheit von Schutzsuchenden auf europäischem Territorium und trotz Kontakt mit staatlichen Institutionen des Grenzschutzes und der Asylbürokratie wird davon ausgegangen, dass die Personen noch gar nicht in die EU eingereist seien. Dies entbindet die Staaten zwar nicht vom Refoulement-Verbot, schränkt die Rechte der Schutzsuchenden aber weiter ein.[36] Das Insistieren des Rates auf diese Detail während des Trilogs zeigt das Bewusstsein für die starke rechtliche Bindungswirkung, die sich auch an der Grenze entfaltet. Eine Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten ist generell nicht vorgesehen, aber die Aufweichung der Kriterien zur Bestimmung eines sicheren Drittstaats stellen eine erste Öffnung in Richtung externalisiertes Asyl dar.
Mit der Verabschiedung des refomierten GEAS im Frühjahr 2024 begann die zweijährige Implementierungsphase, in der die Vorschriften des GEAS nun auch in materielle Infrastrukturen und bürokratische Prozesse überführt werden soll. Wie sich aus der Geschichte des GEAS ergibt, ist dies die eigentliche Kernfrage. Erst in der Implementierung und Durchsetzung des neuen GEAS wird sich zeigen, ob die vielfältigen Versprechen, die im Prozess gemacht wurden, auch tatsächlich eingelöst werden können. Im Ergebnis erzeugt der nun dominant gewordene Migrationsilliberalismus Operationen einer buchstäblich beunruhigenden europäischen Grenze, die weder humanisiert werden kann, noch uneingeschränkt brutalisiert werden darf. Ob in dieser Konstellation die Rückkehr zu einer vertrauensvollen intergouvermentalen Kooperation bei gleichzeitiger Bewahrung des europäischen Rechtsstaats gelingt – dies sind die zentralen Herausforderungen – wird sich zeigen.
Fazit
Was bedeutet diese Geschichte des europäischen Migrations- und Grenzregimes für die Frage des externalisierten Asyls, der Auslagerung von Schutzverpflichtungen an Drittstaaten? Wir begannen die geschichtliche Rekonstruktion mit dem Hinweis, dass vor rund 20 Jahren exakt diesem Vorschlag, dem Blair-Schily-Plan, eine Absage erteilt wurde. Wir zeichneten nach, wie im System aus Schengen, Dublin und Nachbarschaftspolitik versucht wurde, ein internationales, kooperatives Regime der migration governance zu etablieren, welches auf gegenseitigem Vertrauen und internationalen Normen fußen sollte. Wir konnten auch zeigen, wie die Staaten Zentraleuropas von diesem Modell profitierten, bis dieses im Sommer der Migration zusammenbrach. Entlang der beiden Linien der Kooperation und der Verrechtlichung haben wir die Entwicklungen seit diesem Ereignis analysiert, und dargelegt, wie diese nun Eingang in die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gefunden haben.
Selbstverständlich ist das Fazit unserer Überlegungen nicht, dass das GEAS ein Irrweg war und die EU von Beginn an in Anlehnung an die ›pacific solution‹ Australiens eine ›european solution‹ des externalisierten Asyl hätte verfolgen sollen. Unser Argument ist vielmehr, dass wir anhand der Geschichte des europäischen Migrations- und Grenzregime gezeigt haben, welch immense Herausforderung es ist, beständig Kooperation und Kohärenz herzustellen,[37] insbesondere unter Achtung internationaler Normen und rechtsstaatlicher Prinzipien. Normative Regimetheorien postulieren, dass nur ein System internationaler, verbindlicher Normen die Basis einer solchen beständigen, zwischenstaatlichen Kooperation sein kann.[38]
An diesen Herausforderungen muss sich auch das Ruanda-Modell messen lassen. Auch in der Geschichte des GEAS gab es genug Versuche, Drittstaatenmodelle zu etablieren. Spanien verfolgte diese Politiken Richtung Marokko und Mauretanien, der Rabat-Prozess hatte zum Ziel, Nordafrika zu einem Ring sicherer Drittstaaten zu formen. Die italienische Kooperation mit Libyen ist zu nennen, aber auch der Versuch, sowohl die Türkei als auch die Ukraine als sichere Drittstaaten aufzubauen. Gemein ist diesen Versuchen, dass sie in keinem Fall zu einer tragfähigen Kooperation geführt haben und früher oder später scheiterten. Der EU-Türkei-Deal, oder das Memorandum of Understanding mit Tunesien zeichnen sich vor allem durch ihre Fragilität aus. Nicht einmal die EU als institutionalisierte, fast schon staatlich überformte Instanz zwischenstaatlicher Zusammenarbeit war im Stande, Interessensausgleich und Kooperation zwischen ihren Mitgliedstaaten in der Migrationspolitik herzustellen. Die Vertreter:innen des Ruanda-Modells haben bisher nicht darlegen können, wie dies jenseits beständiger hoher Geldzahlungen (EU-Türkei-Deal, Ruanda-Modell) oder postkolonialer Machtgefälle (Australien) möglich sein soll.
Diese Planspiele, wie Bevölkerungen in der Welt verschoben werden könnten, scheitern dabei regelmässig am Antagonismus zur Migration. Dies gilt auch für das GEAS. Trotz der Propagierung angeblicher triple-win-Szenarien wurde bisher noch nie eine Migrationspolitik versucht, die ernsthaft eine Kooperation mit der Migration selbst angestrebt hat. Denn jenseits des hartnäckigen Problems, wie Staaten zu kooperativem Handeln angeleitet werden können, wird keine Migrationspolitik, die ihr Objekt nicht auch zum demokratischen Subjekt macht, sich gegen die Bevölkerung des globalen Raums der Mobilität durchsetzen lassen.
Wie sehr eine Politik des externalisierten Asyls an Demokratie und Rechtsstaat rüttelt, hat sich in Großbritannien gezeigt. Gerade der Versuch, eine vermeintlich rechtsstaatskonforme Ausformulierung des Modells zu finden, führte direkt zur Infragestellung von Grundrechten, hier in der Form der Europäischen Menschenrechtscharta. Dabei ist die Frage, ob sich ein Modell des ausgelagerten Asyls überhaupt menschen- und grundrechtskonform umsetzen lässt, noch lange nicht geklärt. Entgegen der Behauptung einiger, dies ließe sich bewerkstelligen, hat sich noch längst kein juristischer Konsens dazu gebildet. Die Autor:innen einer jüngst erschienen Studie, die auch eine Typologie der verschiedenen Externalisierungs-Modelle erarbeitet, sehen große rechtliche, aber auch praktische und politische Probleme, die einer erfolgreichen Umsetzung solcher Modelle entgegenstehen. Insbesondere gäbe es bisher keine Belege für die Wirksamkeit der Modelle.[39]
Besorgniserregend, wenngleich nicht überraschend ist, dass die Rhetorik, mit der das Ruanda-Modell in Großbritannien vertreten und legitimiert wurde, fast unmittelbar in extreme rassistische Gewalt in vielen Orten Englands mündete. Den Vertretern einer Politik des ausgelagerten Asyls muss diese Entwicklung eine Warnung sein. Die Geschehnisse in England zeigen, dass das Propagieren migrationsfeindlicher Politiken wie des Ruanda-Modells den Rassismus und die Bereitschaft, mit Gewalt gegen Migrant:innen vorzugehen, erst so richtig entfacht.[40] Denn die Vorstellung, schutzsuchende Menschen seien reine Verfügungsmasse, die sich beliebig hin- und herschieben ließen, dass also Migrationspolitik lediglich eine Frage des Management sei, ist eine zutiefst menschenfeindliche Vorstellung. Sie spielt dem Projekt der extremen Rechten in Europa direkt in die Hände.
Fußnoten
[1] BBC, „Sir Keir Starmer Confirms Rwanda Plan ’Dead’ on Day One as PM“, 2024, https://www.bbc.com/news/articles/cz9dn8erg3zo.
[2] Der Blog Calais Border Monitoring begleitet schon seit vielen Jahren die Grenzpolitik im Ärmelkanal, berichtet über die Entwicklungen und stellt aktuelle Analysen zur Verfügung. URL: https://calais.bordermonitoring.eu.
[3] Neha Gohil, „Rwanda Admits It Can’t Guarantee How Many Asylum Seekers It Will Take in from UK“, The Guardian: World News, 5. Mai 2024, https://www.theguardian.com/world/article/2024/may/05/rwanda-refuses-to-confirm-how-many-people-it-will-take-in-from-uk.
[4] Charles Hymas und Genevieve Holl-Allen, „Rwanda Scheme ‚Most Shocking Waste of Taxpayer Money Ever‘, Says Cooper“, The Telegraph, 22. Juli 2024, https://www.telegraph.co.uk/politics/2024/07/22/rwanda-scheme-shocking-waste-of-money-says-yvette-cooper/.
[5] Vikram Dodd, Vikram Dodd Police, und crime correspondent, „UK Police Prepare for Far-Right Rallies with Biggest Mobilisation Since 2011 Riots“, The Guardian: UK News, 7. August 2024, https://www.theguardian.com/uk-news/article/2024/aug/07/uk-police-prepare-for-far-right-rallies-with-biggest-mobilisation-since-2011-riots.
[6] Steffen Lüdke, „Migration über den Ärmelkanal: Ist Deutschland das bessere Ruanda, Herr Knaus?“, Der Spiegel: Ausland, 7. August 2024, https://www.spiegel.de/ausland/migration-ueber-den-aermelkanal-ist-deutschland-das-bessere-ruanda-herr-knaus-a-ec207568-0694-47c6-919f-d9793db65a17.
[7] ESI, „A Channel Plan for London, Berlin and Copenhagen“, 5. Juli 2024, https://www.esiweb.org/sites/default/files/reports/pdf/ESI_A-Channel-deal-for-labour_5-July-2024.pdf.
[8] Ilse van Liempt u. a., „Evidence-Based Assessment of Migration Deals: The Case of the EU-Turkey Statement“, Dezember 2017, 32.
[9] Anthony Blair, „New International Approaches to Asylum Processing and Protection“, Letter, 10. März 2003; William Walters, „Secure Borders, Safe Haven, Domopolitics“, Citizenship Studies 8, Nr. 3 (September 2004): 237–60, https://doi.org/10.1080/1362102042000256989; Caroline Davies und Kevin Rawlinson, „Rwanda-Style Asylum Plan Was ‚Nuclear Option‘ for Blair in 2003, Records Reveal“, The Guardian: UK News, 29. Dezember 2023, https://www.theguardian.com/uk-news/2023/dec/29/tony-blair-rwanda-style-asylum-plan-2003; Bernd Kasparek und Vassilis S. Tsianos, „Back to the Future. Blair-Schily reloaded“, movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1, Nr. 1 (2015), http://movements-journal.org/issues/01.grenzregime/03.kasparek,tsianos–back-to-the-future-blair-schily-reloaded.html.
[10] Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, Niedersächsischer Flüchtlingsrat, und Komitee für Grundrechte und Demokratie, Hrsg., AusgeLAGERt: exterritoriale Lager und der EU-Aufmarsch an den Mittelmeergrenzen, Flüchtlingsrat 110 (Berlin & Hamburg: Assoziation A, 2005), 127ff.; Christopher Ndikum Nsoh, „The European Union Internal Exclusion and Extra-Territorialisation of Asylum Seekers and Migrants into Camps: Case Studies, Ukraine, Libya and Germany“ (phdthesis, Freie Universität Berlin, 2008), Kap. 2; Sonja Buckel, »Welcome to Europe«. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts (Bielefeld: transcript, 2013), 205ff.
[11] Buckel, »Welcome to Europe«. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts, 206.
[12] Simone Paoli, „The Schengen Agreements and Their Impact on Euro-Mediterranean Relations. The Case of Italy and the Maghreb“, Journal of European Integration History 21, Nr. 1 (2015): 125–45.
[13] European Commission, „Applying the Global Approach to Migration to the Eastern and South-Eastern Regions Neighbouring the European Union“ (Brussels, 16. Mai 2007).
[14] Vgl. Martin Geiger und Antoine Pécoud, Hrsg., The Politics of International Migration Management, Migration, Minorities, and Citizenship (Houndmills & New York: Palgrave Macmillan, 2010).
[15] Brigitta Kuster und Vassilis S. Tsianos, „Erase Them! Eurodac and Digital Deportability“ (eipcp. europäisches institut für progressive kulturpolitik, 2013), http://eipcp.net/transversal/0313/kuster-tsianos/en.
[16] Giuseppe Campesi, Policing Mobility Regimes: Frontex and the Production of the European Borderscape, Routledge Studies in Criminal Justice, Borders and Citizenship (London New York: Routledge Taylor & Francis Group, 2022); Bernd Kasparek, Europa als Grenze. Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex, Kultur und soziale Praxis (Bielefeld: transcript Verlag, 2021), https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5730-2/europa-als-grenze/.
[17] Huub Dijstelbloem und Albert Meijer, Hrsg., Migration and the New Technological Borders of Europe (Houndmills & New York: Palgrave Macmillan, 2011).
[18] Vassilis S. Tsianos und Bernd Kasparek, „Zur Krise des europäischen Grenzregimes: eine regimetheoretische Annäherung“, Widersprüche 35, Nr. 138 (2015): 9–24.
[19] Frank Schimmelfennig, „European Integration (Theory) in Times of Crisis. A Comparison of the Euro and Schengen Crises“, Journal of European Public Policy 25, Nr. 7 (3. Juli 2018): 969–89, https://doi.org/10.1080/13501763.2017.1421252.
[20] Charles Heller und Lorenzo Pezzani, „Ebbing and Flowing: The EU’s Shifting Practices of (Non-)Assistance and Bordering in a Time of Crisis“, Near Futures Online 1, Nr. 1 (März 2016).
[21] Laura Lambert, „Contested Promises. Migrants’ Material Politics Vis-à-Vis the Humanitarian Border in Niger“, Science as Culture 32, Nr. 3 (3. Juli 2023): 363–86, https://doi.org/10.1080/09505431.2023.2221289.
[22] Lena Karamanidou und Bernd Kasparek, „From Exceptional Threats to Normalized Risks: Border Controls in the Schengen Area and the Governance of Secondary Movements of Migration“, Journal of Borderlands Studies 0, Nr. 0 (6. Oktober 2020): 1–21, https://doi.org/10.1080/08865655.2020.1824680.
[23] Fiorenza Picozza, „Dubliners: Unthinking Displacement, Illegality and Refugeeness Within Europe’s Geographies of Asylum“, in The Borders of “Europe”: Autonomy of Migration, Tactics of Bordering, hg. von Nicholas De Genova (Durham: Duke University Press, 2017); Liza Schuster, „Turning Refugees into ‚Illegal Migrants‘: Afghan Asylum Seekers in Europe“, Ethnic and Racial Studies 34, Nr. 8 (2011): 1392–1407, http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/01419870.2010.535550; Vassilis S. Tsianos, „Die (Un-)Durchlässigkeit der europäischen Außengrenzen für Geflüchtete. Der Fall Eurodac“, Soziale Probleme 26, Nr. 2 (1. Dezember 2015): 189–204, https://doi.org/10.1007/s41059-015-0011-y; David Lorenz, Die umkämpfte Dublin-Verordnung: gesellschaftliche, politische und juristische Auseinandersetzungen um Asyl in der Europäischen Union, Kultur und soziale Praxis (Bielefeld: Transcript, 2023).
[24] Ausführlich Buckel, »Welcome to Europe«. Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts.
[25] Maximilian Pichl, Rechtskämpfe: eine Analyse der Rechtsverfahren nach dem Sommer der Migration (Frankfurt am Main New York: Campus Verlag, 2021).
[26] European Commission, „A European Agenda on Migration“ (Brussels, 13. Mai 2015).
[27] Bernd Kasparek, „Routes, Corridors, and Spaces of Exception: Governing Migration and Europe“, Near Futures Online 1, Nr. 1 (Januar 2016), http://nearfuturesonline.org/routes-corridors-and-spaces-of-exception-governing-migration-and-europe/; Council of Europe, „The Situation of Refugees and Migrants under the EU-Turkey Agreement of 18 March 2016“, 19. April 2016; Mariana Gkliati, „The Application of the EU-Turkey Agreement: A Critical Analysis of the Decisions of the Greek Appeals Committees“, European Journal of Legal Studies 10, Nr. 1, 1 (2017): 80–123.
[28] Forensic Architecture, „The Killing Of Muhammad Gulzar“, 8. Mai 2020, https://forensic-architecture.org/investigation/the-killing-of-muhammad-gulzar.
[29] Dimitris Koros, „The Normalization of Pushbacks in Greece: Biopolitics and Racist State Crime“, State Crime Journal 10, Nr. 2 (1. Januar 2021), https://doi.org/10.13169/statecrime.10.2.0238; Lena Karamanidou und Bernd Kasparek, „From Exception to Extra-Legal Normality: Pushbacks and Racist State Violence Against People Crossing the Greek–Turkish Land Border“, State Crime Journal 11, Nr. 1 (18. Juni 2022), https://doi.org/10.13169/statecrime.11.1.0012.
[30] Solomon u. a., „Under the Unwatchful Eye of the Authorities’ Deactivated Cameras: Dying in the Darkest Depths of the Mediterranean“, 6. Juli 2023, https://wearesolomon.com/mag/format/investigation/under-the-unwatchful-eye-of-the-authorities-deactivated-cameras-dying-in-the-darkest-depths-of-the-mediterranean/.
[31] Bernd Kasparek und Lena Karamanidou, „What is in a name? Die europäische Grenzschutzagentur Frontex nach dem Sommer der Migration“, in Von Moria bis Hanau – Brutalisierung und Widerstand, hg. von Valeria Hänsel u. a., Grenzregime 4 (Berlin Hamburg: Assoziation A, 2022).
[32] Melanie Fink, Frontex and Human Rights: Responsibility in ’Multi-Actor Situations’ Under the ECHR and EU Public Liability Law, First Edition, Oxford Studies in European Law (Oxford & New York: Oxford University Press, 2018); Mariana Gkliati und Herbert Rosenfeldt, „Accountability of the European Border and Coast Guard Agency: Recent Developments, Legal Standards and Existing Mechanisms“, 2018, 19; Lena Karamanidou und Bernd Kasparek, „Fundamental Rights, Accountability and Transparency in European Governance of Migration: The Case of the European Border and Coast Guard Agency FRONTEX“, RESPOND Working Paper, Juli 2020, http://doi.org/10.5281/zenodo.3967784; ECRE, „Holding Frontex to Account. ECRE’s Proposals for Strengthening Non-Judicial Mechanisms for Scrutiny of Frontex“, Mai 2021, https://ecre.org/wp-content/uploads/2021/05/Policy-Papers-07.pdf; FRA, „Guidance on Investigating Alleged Illtreatment at Borders“, 30. Juli 2024, https://fra.europa.eu/en/publication/2024/guidance-investigating-alleged-ill-treatment-borders.
[33] Bernd Kasparek, „Zum Bericht der EU-Antikorruptionsbehörde OLAF über die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Ein Leseversuch“, movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 7, Nr. 2 (15. Dezember 2023), http://movements-journal.org/issues/11.ukraine/09.kasparek–zum-bericht-der-eu-antikorruptionsbehorde-olaf-uber-die-europaische-grenzschutzagentur-frontex.html.
[34] Andreas Ernst, „Former Frontex chief is now Le Pen’s ally in Brussels“, Neue Zürcher Zeitung, 13. Juni 2024, https://www.nzz.ch/english/former-frontex-chief-is-now-le-pens-ally-in-brussels-ld.1834779.
[35] Mathias Hong, „Die „Fiktion der Nichteinreise“ als Grundrechtseingriff durch normativen Tatsachenausschluss“, Verfassungsblog, 4. Juli 2018, https://doi.org/10.17176/20180705-091536-0.
[36] Dana Schmalz, „Die Fiktion der Nichteinreise ist ein Instrument der Entrechtung“, Verfassungsblog, 4. Juli 2018, https://doi.org/10.17176/20180704-163846-0.
[37] Giuseppe Sciortino, „Between Phantoms and Necessary Evils. Some Critical Points in the Study of Irregular Migrations to Western Europe“, IMIS-Beiträge 24 (2004): 17–43.
[38] Vgl. Stephen D. Krasner, Hrsg., International Regimes, Cornell Studies in Political Economy (Ithaca: Cornell University Press, 1983).
[39] Steffen Angenendt u. a., „Die Externalisierung des europäischen Flüchtlingsschutzes – Eine rechtliche, praktische und politische Bewertung aktueller Vorschläge“, 2024.
[40] Aurélien Mondon und Aaron Winter, Reactionary Democracy: How Racism and the Populist Far Right Became Mainstream (London: Verso, 2020).