Ein „Endlager“ für Geflüchtete? Zur Debatte um die Externalisierung von Asylverfahren

Volker M. Heins, Professor, Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI)

 

Die Bundesregierung prüft zurzeit eine Auslagerung von Asylverfahren, wie sie bereits von Großbritannien und Italien geplant werden. Gesucht wird ein Modell der Externalisierung, dass (1) dem internationalen Recht entspricht, dass (2) machbar und finanzierbar ist, und dass (3) politisch mehrheitsfähig ist, und zwar sowohl in Deutschland als auch in dem entsprechenden Drittstaat. Der Beitrag argumentiert, dass dies eine unmögliche Aufgabe ist. Trade-offs zulasten der Rechte von Migrant:innen sind unvermeidlich. Genau dies ist das eigentliche, nicht ausgesprochene Ziel der Externalisierung. Menschen aus dem Globalen Süden sollen mit allen Mitteln daran gehindert werden, nach Europa zu gelangen.

 

„Rassismus tötet“ – das ist bekannt. Aber rassistische Akteure begehen auch „symbolische Morde“, bei denen kein Blut fließt. Das Wort verwendet Jean-Paul Sartre im Herbst 1944, wenige Wochen nach der Befreiung von Paris, um den Antisemitismus zu beschreiben, dessen Verwandtschaft mit dem modernen Rassismus er ebenfalls unterstreicht: „Gewiß fordern nicht alle Feinde des Juden lauthals seinen Tod, die Maßnahmen jedoch, die sie vorschlagen und die alle auf seine Erniedrigung, seine Demütigung, seine Verbannung abzielen, sind ein Ersatz für den Mord, den sie im Sinn haben: es sind symbolische Morde.“[1]

Erniedrigung, Demütigung, Verbannung – das sind auch die Absichten, die zahlreichen Maßnahmen zugrunde liegen, die in jüngster Zeit in Deutschland gegen Geflüchtete beschlossen oder erwogen wurden: Bezahlkarten, Arbeitsverbote, Arbeitspflichten, die Kürzung von Sozialleistungen für Asylsuchende unter das Existenzminimum, und verschärfte Abschieberegeln. Keine dieser Maßnahmen dient dem deklarierten Ziel, Schutzsuchende außerhalb Europas von ihren Reiseplänen abzubringen. Aber sie erfüllen den Zweck, Menschen, die bereits angekommen sind, ihren Platz in der Gesellschaft zuzuweisen, der nämlich ganz unten sein soll, am untersten Ende der weißen Mehrheitsgesellschaft.

Sartre nennt das Stichwort „Verbannung“, das den verschwiegenen Mittelpunkt der Debatte um die Externalisierung von Asylverfahren in sogenannte sichere Drittstaaten bildet. Unter Externalisierung versteht die kritische Migrationsforschung Maßnahmen, durch die Staaten außerhalb ihrer eigenen Territorien, d.h. in anderen Ländern oder internationalen Gewässern, die Kontrolle ihrer Grenzen sicherzustellen versuchen.[2] Dies geschieht durch restriktive Visaregimes oder die Übertragung von Grenzschutzaufgaben an ausländische Mächte entlang der Migrationsrouten.

Eine weitere Option ist die Auslagerung von Asylverfahren nach australischem Vorbild.[3] Etwas Ähnliches wurde zuletzt von Großbritannien in Kooperation mit Ruanda sowie von Italien in Kooperation mit Albanien versucht. Die deutsche Bundesregierung möchte nun ebenfalls eine solche Option prüfen und hat zu diesem Zweck eine Reihe von Anhörungen im Bundesinnenministerium organisiert. Im Folgenden resümiere ich die Einschätzung, die ich bei einer Anhörung im Mai 2024 vorgetragen habe.

 

Die Ausgangslage

Gesucht wird ein Modell der Externalisierung von Asylverfahren in außereuropäische Drittstaaten, das drei Bedingungen erfüllt: es soll (1) rechtskonform sein, d.h. im Einklang stehen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Konvention, der Charta der Grundrechte der EU, dem internationalen Seerecht usw.; es soll (2) machbar, d.h. finanzierbar, logistisch und technisch umsetzbar sein, und zwar langfristig; schließlich muss ein solches Modell (3) politisch mehrheitsfähig sein, und zwar sowohl in Deutschland als auch, was oft vergessen wird, in dem jeweiligen Drittstaat, in den Asylverfahren ausgelagert werden sollen.

Die öffentliche Diskussion in Deutschland zielt hauptsächlich auf das Kriterium der Mehrheitsfähigkeit (Stichwort „Populismus“) und vernachlässigt sowohl die Legalität als auch die realpolitische Durchsetzbarkeit einschließlich der Kosten unterschiedlicher Modelle der Auslagerung von Asylverfahren. Wir beobachten das Auseinanderfallen von öffentlicher Meinungsbildung und juristischen und sozialwissenschaftlichen Fachdiskursen (sowie migrantischen Perspektiven).

Meine Einschätzung lautet, dass die genannten drei Bedingungen in einem unlösbaren Zielkonflikt stehen. Durchsetzbare Modelle tendieren dazu, die Rechte von Migrant:innen zu verletzen, rechtskonforme Lösungen lassen sich nicht verwirklichen und/oder sind nicht mehrheitsfähig. Zwar kann man sich ein Modell ausmalen, in dem der genannte Zielkonflikt ausbleibt. In der politischen Wirklichkeit jedoch ist nicht zu erkennen, wie ein Abkommen mit den wenigen Ländern, die als Drittstaaten in Frage kommen dürften, ohne empfindliche Trade-offs zulasten der Menschenrechte und/oder der Durchsetzbarkeit aussehen könnte. Aus diesem Grund halte ich die Suche nach Drittstaaten, in die Asylverfahren ausgelagert werden sollen, für einen Irrweg.

 

Was soll mit der Auslagerung von Asylverfahren erreicht werden?

Wenn die Auslagerung von Asylverfahren die Lösung ist, dann stellt sich die Frage: für welches Problem? In der öffentlichen Diskussion ist mehr oder weniger explizit von fünf Zielen die Rede:

 

(1) Reduzierung der absoluten Zahl von Asylsuchenden

Eine neuere Umfrage unter migrationswilligen Personen im Senegal zeigt, dass die Aussicht darauf, Asylverfahren in Drittstaaten wie Ruanda oder Tunesien durchlaufen zu müssen, tatsächlich die Bereitschaft zu irregulärer Migration senkt, und zwar „signifikant und substanziell“.[4] Nun ist die Schutzquote für Menschen aus dem Senegal ohnehin niedrig, und man kann Zweifel an der Verallgemeinerbarkeit der Studie anmelden. Zu vermuten ist, dass die Abschreckungswirkung dann am größten ist, wenn Schutzsuchenden die Aussicht auf ein faires Asylverfahren genommen wird oder es zu Verletzungen der Menschenrechte in dem jeweiligen Drittstaat kommt. Werden die Asylzentren in Albanien einem „italienischen Guantanamo“ ähneln, wie es der italienische Abgeordnete Riccardo Magi vorhersagt,[5] hätte man das Ziel der Abschreckung erreicht. Dann aber wäre die Auslagerung rechtswidrig, es sei denn, der auslagerungswillige Staat löst sich aus der Bindung an internationale Konventionen, was wiederum unabsehbare neue Probleme verursachen würde. Eine menschenrechtskonforme Abschreckungspolitik erscheint mir widersinnig und zum Scheitern verurteilt.

 

(2) Reduzierung der (bereinigten) Schutzquote von Asylsuchenden

Die Verteidigung der Rechte von Asylsuchenden setzt räumlich-physische Nähe mit denjenigen voraus, die Asylsuchende unterstützen. Dazu gehören Anwält:innen und Berater:innen, Solidaritätsgruppen und Familienangehörige. Die Bedingungen dieser physischen „Ko-Präsenz“[6] müssten bei einer Auslagerung auch in dem jeweiligen Drittstaat hergestellt werden. Der Begriff der „Auslagerung“ suggeriert, dass Asylverfahren lediglich an einem anderen Ort durchgeführt werden, ohne die Rechte der Schutzsuchenden einzuschränken. Tatsächlich sieht die vieldiskutierte Vereinbarung zwischen Italien und Albanien in Art. 9(2) ausdrücklich vor, dass Asylsuchenden in Albanien in Übereinstimmung mit Art. 47 der Grundrechte-Charta der EU ein Recht auf „wirksamen Rechtsbehelf“, sprich Anwält:innen ihrer Wahl, unparteiische Gerichte sowie Zugang zu internationalen Organisationen haben sollen.[7] Falls diese Rechte weiterhin gewährleistet würden, dürfte sich auch an den Schutzquoten nichts ändern.

 

(3) Entlastung der (deutschen) Kommunen

Wenn die Unterbringung von Asylsuchenden in einem anderen Land stattfindet, werden deutsche Kommunen entlastet. Dafür werden allerdings Kommunen in dem ausgewählten Drittstaat belastet, in Albanien etwa die kleine Hafenstadt Shëngjin mit 12.000 Einwohner:innen und der Badeort Gjader, der zur Gemeinde Lezha im Nordwesten des Landes gehört, die je nach Quelle 15.000 bis 29.000 Einwohner:innen hat. In den beiden Orten sollen insgesamt 3.000 Schutzsuchende untergebracht werden. Pro Jahr sollen etwa 36.000 Personen Asylverfahren durchlaufen. Es ist unklar, ob und wie die Menschen in den beiden Orten in die Entscheidung für das Abkommen mit Italien einbezogen wurden, ob es lokale Konflikte gibt und wie sie bewältigt werden. Vielleicht ist die albanische Landbevölkerung weltoffener und toleranter als die Bevölkerung gewisser Regionen in Deutschland, aber man sollte sich nicht darauf verlassen. Lokale Konflikte sind eine potenzielle Gefahr für die Nachhaltigkeit des italienisch-albanischen Modells, das von konservativer Seite in Deutschland voreilig als mögliche „Lösung für ganz Europa“ gepriesen wurde.[8]

 

(4) Bekämpfung des Rechtsradikalismus

In der Öffentlichkeit wird gelegentlich argumentiert, dass die Reduzierung der Ankunftszahlen von Flüchtlingen und anderen Migrant:innen eine Voraussetzung sei für die Wahrung des sozialen Friedens und insbesondere für die Bekämpfung des Rechtsradikalismus.[9] Nun ist die Reduzierung der Ankunftszahlen möglichst auf null tatsächlich eine Forderung rechtsradikaler Parteien.[10] Allerdings gibt es keine empirischen Hinweise darauf, dass politische Zugeständnisse an rechtsradikale Parteien diese schwächen und das Lager der Mitte stärken würden.[11] Umgekehrt zeigen Studien, dass große und mittlere Städte in Deutschland mit hoher Zuwanderung vergleichsweise liberal sind und die soziokulturelle Diversität der Wohnbevölkerung von einer robusten Mehrheit geschätzt wird; diese Mehrheit ist nach der Flüchtlingsbewegung von 2015 sogar noch gewachsen.[12] Die Gefahr für den sozialen Frieden speist sich nicht aus der bloßen Zahl von Migrant:innen, sondern daraus, wie Zahlen öffentlichkeitswirksam skandalisiert werden.[13]

 

(5) Senkung der „Migrationskosten“

Immer wieder werden zudem die Kosten für die Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen sowie die Kosten der Asylverfahren genannt.[14] Es ist allerdings zweifelhaft, ob die geografische Auslagerung von Asylverfahren Kosten einspart. Das albanische Modell geht davon aus, dass die beiden geplanten „Areale“ italienischer Rechtsprechung und Verwaltung unterliegen. Der italienische Staat kümmert sich um den Bau und die Instandhaltung der Quartiere, die medizinische und sonstige Versorgung sowie die Sicherheit im Inneren dieser haftähnlichen Anlagen. Es ist unklar, warum das billiger werden soll, nur weil es woanders stattfindet. Hinzu kommt, dass die Auslagerung neue Kosten produziert, da Menschen außerhalb der italienischen Hoheitsgewässer im Mittelmeer aufgegriffen und nach Albanien transportiert werden sollen. Mehr noch: Diejenigen, die einen positiven Asylbescheid erhalten, sollen dann wieder nach Italien oder in ein anderes Land zurückbefördert werden. Weiterhin sollen auf den italienischen Schiffen vulnerable von nicht-vulnerablen Personen getrennt und nur letztere nach Albanien geschickt werden – ein Vorhaben, das voraussichtlich zu allerhand Irrtümern führen wird, die dann durch neue Transporte korrigiert werden müssen. Italienische Fachleute befürchten unkalkulierbare Kosten und eine „Verschwendung öffentlicher Gelder“.[15]

 

Auslagerung von Asylverfahren oder Suche nach einem „Endlager“ für Geflüchtete?

Eine weitere Schwierigkeit sehe ich in der innenpolitischen Eskalationsdynamik, die ohne Not auch von Parteien der bürgerlichen Mitte befeuert wird. Wir beobachten immer radikalere und wirklichkeitsfremdere Vorschläge zur Lösung eines „Problems“, das nicht einmal genau beschrieben wird. Ein besonders schlagendes Beispiel ist folgende Passage aus dem neuen CDU-Grundsatzprogramm: „Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Falle eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren [Hervorhebungen von mir – VH]. Dazu wird mit dem sicheren Drittstaat eine umfassende vertragliche Vereinbarung getroffen.“[16]

Dieser Vorschlag der CDU, möglichst niemandem mehr in Deutschland Schutz zu gewähren, geht deutlich über das italienisch-albanische Modell hinaus, das sehr wohl noch vorsieht, Schutzsuchende nach einem positiven Ausgang des Asylverfahrens die Einreise nach Italien oder in andere Staaten zu ermöglichen. Zugleich wird der Vorschlag die ohnehin enormen Schwierigkeiten bei der Suche nach einem sicheren Drittstaat weiter erhöhen. Niemand verbindet die Idee sicherer Drittstaaten mit der Schweiz, Norwegen oder prosperierenden Ländern in Ostasien. Vielmehr wird die Suche nach willigen Drittstaaten von der neokolonialen Fantasie beherrscht, Flüchtlinge irgendwo „nach Afrika“ zu verfrachten. Dass dies gelingt, ist jedoch unwahrscheinlich. Europa beobachtet Afrika, aber Politik und Öffentlichkeit unterschätzen hierzulande, dass Menschen in Afrika auch uns beobachten, und zwar zunehmend selbstbewusst und herausfordernd. So gibt es Hinweise, dass die deutsche und europäische Haltung zum Gaza-Krieg die diplomatische Position Europas in Afrika erheblich beschädigt hat.[17] Ansehensverluste ergeben sich auch aus dem, was eine tansanische Forscherin den strategisch fatalen „Paternalismus“[18] des Westens gegenüber dem afrikanischen Kontinent genannt hat.

Ein jüngstes Beispiel, das die Medien amüsant fanden, wenngleich es einen durchaus ernsten Kern hat: Deutschland fordert, dass sich Botswana mehr um den Schutz seiner Elefanten kümmert. Botswana antwortet, dass man mit den wachsenden Elefantenherden an Kapazitätsgrenzen stoße und deshalb 20.000 Elefanten an Deutschland verschenken werde, damit sie bei uns Schutz finden.[19]

Wenn man den mutmaßlichen Irrweg einer Auslagerung von Asylverfahren beschreiten möchte, spricht daher vieles dafür, in der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft nach Drittstaaten zu suchen, insbesondere unter den EU-Beitrittskandidaten, die sich zur Übernahme und allmählichen Implementierung europäischer Rechtsnormen verpflichtet haben. Albanien scheint hier besonders eifrig zu sein.[20] Allerdings sind Asylabkommen mit EU-Beitrittskandidaten schon deshalb nicht nachhaltig, weil im Zuge der Beitrittsverhandlungen die Voraussetzungen dieser Abkommen untergraben werden. Die Kritik an der Auslagerung von Asylverfahren richtet sich oft gegen die Unterstellung, bestimmte Drittstaaten seien tatsächlich „sicher“. Ebenso schwerwiegend scheint mir der Einwand zu sein, dass Beitrittskandidaten kaum auf längere Sicht in der Position von „Drittstaaten“ gehalten werden können. So entsteht ein unlösbares strategisches Dilemma. Ein Land wie Albanien hat dem Deal mit Italien unter anderem in der Erwartung zugestimmt, dass Italien dabei hilft, den Weg in die EU-Mitgliedschaft zu ebnen. Entweder wird diese Erwartung enttäuscht: Dann dürfte sich Albanien nach der zunächst ohnehin auf 5 Jahre begrenzten ersten Phase des Abkommens gegen seine Fortsetzung entscheiden. Oder aber Albanien wird Mitglied der EU. Dann jedoch hört das Land auf, ein Drittstaat zu sein, und unterliegt dem Recht der Europäischen Union.

 

Fünf Einwände

Das Asylabkommen zwischen Italien und Albanien, das von prominenten deutschen Politikern als „Vorbild“[21] gelobt wurde, wird vermutlich nicht daran scheitern, dass es als rechtswidrig eingestuft wird. In einer vorläufigen Stellungnahme hat die Europäische Kommission bereits festgestellt, dass das Abkommen „außerhalb des EU-Rechts“ und damit nicht im Widerspruch zu ihm stehe.[22] Trotzdem: Ein großes rechtliches Problem dürfte darin liegen, dass die geplanten Lager in Albanien dem Verbot willkürlicher Inhaftierung und damit einem Menschenrecht widersprechen könnten, das auch in der Charta der Grundrechte der EU festgeschrieben ist. Vieles spricht zudem dafür, das willkürliche Inhaftierung, falls sie denn festgestellt wird, weitere Menschenrechtsverletzungen nach sich ziehen könnte, insbesondere die grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Inhaftierten.[23] All das bleibt abzuwarten.

Nehmen wir an, dass der Albanien-Deal und vergleichbare Abkommen, die unter dem Druck der öffentlichen Stimmung gewiss in nächster Zeit vorbereitet werden, die zu erwartenden juristischen Klagen überstehen. Dann würden immer noch fünf zentrale Argumente greifen, die ich abschließend gegen die Externalisierung von Asylverfahren anführen möchte:

(1) Unabhängig davon, ob sie rechtskonform gestaltet werden könnte, würde die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten zu einer kostspieligen Duplizierung der Strukturen führen, die für die faire Durchführung von Asylverfahren notwendig sind. Das BAMF und andere Einrichtungen müssten Personal entweder dauerhaft versetzen oder zwischen den Ländern pendeln lassen.

(2) Auch dann, wenn die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten nicht rechtswidrig und außerdem umsetzbar wäre, würde sie einen Angriff auf die menschliche Freiheit oder, in der Sprache des Grundgesetzes, auf die „Würde des Menschen“ darstellen. Es droht eine staatlich organisierte Form des human trafficking. Menschen werden ungefragt zwischen unterschiedlichen Abnehmern hin und her transportiert, als seien sie bloße Gegenstände. Externalisierungsprojekte behandeln „people as cargo”.[24]

(3) Wenn Deutschland sich aus der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz stielt, wäre dies zudem ein fatales Signal an andere Staaten in Europa und darüber hinaus.[25] Zu befürchten wären unkalkulierbare Domino-Effekte im Bereich des internationalen Schutzes der Menschenrechte.

(4) Aber auch nach innen hätte eine Verschärfung der Politik der Abschottung und Abschreckung bedenkliche Konsequenzen. Die interne Rückwirkung einer rücksichtslosen, von öffentlichen Stimmungen getriebenen Auslagerung von Asylverfahren dürfte die von Beobachtern festgestellte Umdeutung und Erosion von Rechtsstaatlichkeit in Europa beschleunigen.[26]

(5) Zu befürchten ist schließlich eine Verengung des Diskurses auf nicht-nachhaltige Scheinlösungen, die zudem hohe Opportunitätskosten verursachen. Deutschland entstehen Kosten allein dadurch, dass es viel Zeit und Geld in die Suche nach Drittstaaten investiert. Wäre es nicht sinnvoller, (a) mit Herkunfts- und Transitstaaten über den Aufbau eigener Schutzsysteme zu verhandeln, (b) migrationswilligen Personen mit wenig Aussicht auf einen Schutzstatus alternative Migrationspfade (etwa nach dem Vorbild der Westbalkanregelung) zu eröffnen und (c) einen Masterplan zur Unterstützung aufnahmebereiter Kommunen zu entwickeln?

 

Schlussbemerkung

Die politische Sprache ringt darum, Maßnahmen zu rechtfertigen, die sich eigentlich nicht rechtfertigen lassen. Das ist nicht neu. So schrieb George Orwell 1946: „In our time, political speech and writing are largely the defence of the indefensible.”[27] Dies erklärt die Inflation von Euphemismen in der Migrationspolitik: „sichere Drittstaaten“, „Rückführungen“, „solidarische Asylpolitik“, „Humanität und Ordnung“. Auch bei der „Auslagerung“ von Asylverfahren haben wir es mit einem Euphemismus zu tun, da es letztlich nicht um eine bloße geografische Verlegung von Verfahren geht, sondern darum, bestimmte Menschengruppen auf Dauer loszuwerden und gleichsam verschwinden zu lassen. „Areale“ und „Zentren“ sind Euphemismen für Lager. In der Fantasie mancher Politiker:innen sollen sogar ganze Länder wie Ruanda oder Albanien wie Lager funktionieren, „Endlager“ sozusagen. Dabei verweisen die kolonialen Ursprünge des Lagers als Herrschaftsform auf eine grundlegende Ambivalenz: Das Lager liegt außerhalb des nationalen Territoriums und wird doch durch eine Vielzahl von Verordnungen und Maßnahmen vom Nationalstaat regiert. Es ist ein Raum, der die Unterscheidung von Innen und Außen, Einschluss und Ausschluss unterläuft und in diesem Prozess immer wieder „Löcher und Abgründe“[28] für seine Insassen schafft.

 

Fußnoten

[1] J.-P. Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 33.

[2] Vgl. S. Cobarrubias et al., “Interventions on the concept of externalisation in migration and border studies”, Political Geography, 105 (2023), S. 1. https://doi.org/10.1016/j.polgeo.2023.102911

[3] Vgl. Australian Refugee Council, “Australia’s offshore processing regime: The facts”, 20.05.2020. https://www.refugeecouncil.org.au/offshore-processing-facts/

[4] B. Beber et al., “Is Intent to Migrate Irregularly Responsive to Recent German Asylum Policy Adjustments?”, Ruhr Economic Papers #1071 (2024), S. 1; https://www.rwi-essen.de/fileadmin/user_upload/RWI/Publikationen/Ruhr_Economic_Papers/REP_24_1071.pdf

[5] Zit. in P. Cappelleri, “Due centri in Albania, c’è l’intesa per 39mila migranti all’anno”, Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA), 07.11.2023. https://www.ansa.it/sito/notizie/politica/2023/11/07/due-centri-in-albania-ce-lintesa-per-39mila-migranti-allanno_2be5459d-3401-44f6-9db6-36c18e0d80fb.html

[6] D. Schmalz, „Recht, Politik und die Bedingungen der Ko-Präsenz: Das ‚Recht, Rechte zu haben‘ im Lichte gegenwärtiger Migrationsfragen“, Rechtsphilosophie, 7(1) (2021), S. 32-46.

[7] Camera dei deputati, “Protocollo Italia-Albania in materia migratoria”, 08.03.2024; https://temi.camera.it/leg19/provvedimento/protocollo-italia-albania-in-materia-migratoria.html

[8] Vgl. „Söder sieht große Übereinstimmung mit Meloni“, ZDF heute, 10.05.2024; https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/soeder-meloni-italien-treffen-100.html

[9] So etwa Stephan Thomae, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, „Sollte Deutschland ein Asylabkommen mit Drittstaaten schließen?“, Bayerische Staatszeitung, 16.05.2024; https://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/sollte-deutschland-ein-asylabkommen-mit-drittstaaten-schliessen.html#topPosition

[10] Vgl. z.B. “Kickl fordert Asyl-Stopp: ‚Meine Obergrenze ist Null‘“, OE24, 15.11.2023; https://www.oe24.at/oesterreich/politik/parteien/kickl-fordert-asyl-stopp-meine-obergrenze-ist-null/575667822

[11] Vgl. W. Krause et al., “Does accommodation work? Mainstream party strategies and the success of radical right parties”, Political Science Research and Methods, 11(1) (2023), S. 172-179. https://doi.org/10.1017/psrm.2022.8

[12] Vgl. E. Harris et al., “Diversity assent: conceptualisation and an empirical application”, Ethnic and Racial Studies, 2023; https://doi.org/10.1080/01419870.2023.2277317

[13] Vgl. V.M. Heins, “The Plasticity of Our Fears: Affective Politics in the European Migration Crisis”, Society, 58(6) (2021), S. 500-506. https://doi.org/10.1007/s12115-021-00643-2

[14] Vgl. z.B. Deutscher Bundestag, „28 Milliarden Euro Flucht- und Migrationskosten“, 07.05.2023; https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-949118

[15] Associazione per gli Studi Giuridici sull’Immigrazione (ASGI), “Il Protocollo italo-albanese in materia migratoria prevede norme incerte ed illegittime”, 22.11.2023, S. 8, 12; https://www.asgi.it/wp-content/uploads/2023/11/Analisi-giuridica-ASGI-Intesa-Italia-Albania.pdf

[16] Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, „In Freiheit leben“, S. 23f.; https://www.grundsatzprogramm-cdu.de/grundsatzprogramm

[17] Vgl. M. Langan & S. Price, “The conflict in Gaza casts a dark shadow over Europe’s new co-operation agreement with Africa”, LSE Blog, 10.11.2023; https://blogs.lse.ac.uk/africaatlse/2023/11/10/the-conflict-in-gaza-casts-a-dark-shadow-over-europes-new-co-operation-agreement-with-africa/

[18] C. Nzuki, “The Cost of Paternalism: Sahelian Countries Push Back on the West”, Center for Strategic & International Studies (CSIS), 21.03.2024; https://www.csis.org/analysis/cost-paternalism-sahelian-countries-push-back-west

[19] Vgl. M. Göbel, „Will Botswana wirklich 20.000 Elefanten nach Deutschland schicken?“, Spiegel Online, 04.04.2024; https://www.spiegel.de/panorama/will-botswana-wirklich-20-000-elefanten-nach-deutschland-schicken-a-1bfed407-19c0-4a05-bc4a-b77e2d65d8e0

[20] A. Taylor, “Albania to speed up EU accession using ChatGPT”, Euractiv.com, 13.12.2023; https://www.euractiv.com/section/politics/news/albania-to-speed-up-eu-accession-using-chatgpt/

[21] „Merz will Flüchtlingszahlen auf unter 100.000 pro Jahr senken“, Zeit Online, 16.03.2024; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-03/friedrich-merz-fluechtlinge-migration-ruanda-albanien

[22] J. Liboreiro, “Italy-Albania migration deal falls ‘outside’ EU law, says Commissioner Ylva Johansson”, Euronews, 15.11.2023; https://www.euronews.com/my-europe/2023/11/15/italy-albania-migration-deal-falls-outside-eu-law-says-commissioner-ylva-johansson

[23] Vgl. S. Carrera et al., “The 2023 Italy-Albania protocol on extraterritorial migration management: A worst practice in migration and asylum policies”, Brussels 2023, S. 15; https://cdn.ceps.eu/wp-content/uploads/2023/12/ASILE_Italy-Albania-MoU-Extraterritorial-Migration-Management.pdf

[24] Ebd., S. 19.

[25] Vgl. S. Dünnwald, „Sollte Deutschland ein Asylabkommen mit Drittstaaten schließen?“, Bayerische Staatszeitung, 16.05.2024; https://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/sollte-deutschland-ein-asylabkommen-mit-drittstaaten-schliessen.html#topPosition

[26] Vgl. M. Pichl, Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat, Berlin 2024.

[27] G. Orwell, “Politics and the English Language”, in: Collected Essays, Journalism and Letters, New York 1968, S. 136.

[28] F. Rahola, “The space of camps: Towards a genealogy of places of internment in the present”, in: A. Dal Lago & S. Palidda (Hg.), Conflict, Security and the Reshaping of Society: The Civilization of War, London 2010, S. 198. https://doi.org/10.4324/9780203846315.