Ramona Rischke, Zeynep Yanaşmayan, Simon Ruhnke & Marcus Engler, DeZIM-Institut
In diesem Beitrag argumentieren wir am Beispiel der Türkei und des Libanon, dass die gegenwärtige Ausgestaltung der europäischen Externalisierungspolitik dem wirksamen Schutz von Geflüchteten schadet, der internationalen Verantwortungsteilung zuwiderläuft und zudem die unterstellte Steuerungswirkung (weniger irreguläre Migration in Richtung EU unter Einhaltung der Menschenrechte) nicht entfalten kann. Die Situation von Geflüchteten, einschließlich ihrer rechtlichen Lage, ist in beiden Kontexten prekär. Migrationsbestrebungen syrischer Geflüchteter hängen maßgeblich mit ihrer sozioökonomischen Ausgrenzung und zunehmenden Diskriminierungserfahrungen zusammen. Trotz des Hervorhebens und Förderung von Aufnahmeinfrastrukturen in beiden Ländern sind weder das „EU-Türkei-Abkommen“ noch das neue EU-Libanon-Abkommen darauf ausgerichtet, nachhaltige Lösungen herbeizuführen. Um Aufnahmesysteme zu verbessern und das Sterben auf gefährlichen Routen zu reduzieren, müssen Schutzsysteme in Erstaufnahmeländern gestärkt, reguläre Wege für internationale Mobilität erheblich ausgeweitet und auch in Zielländern wie Deutschland robuste und langfristige Aufnahmeinfrastrukturen aus- und aufgebaut werden.
Die gegenwärtige Signal- und Abschreckungspolitik ist wird nicht die erwünschten Steuerungseffekte erzielen
Änderungen der Migrations- und insbesondere der Asylpolitik der vergangenen Jahre erscheinen zunehmend entkoppelt von wissenschaftlicher Evidenz[1]. Sie scheinen also auf Annahmen zu beruhen, die entweder wissenschaftlich nicht bewiesen oder schon widerlegt sind. Als Beispiele hierfür lassen sich die Diskussionen um die Wirksamkeit der Bezahlkarte bzw. des Vorhandenseins von signifikanten „Wohlfahrtsmagneten“ einordnen[2] sowie die Kriminalisierung von Seenotrettung im Mittelmeer basierend auf der widerlegten Annahme[3] eines Pull-Faktors durch Seenotrettung. Auch in Debatten um Externalisierungspolitiken, wie Migrationsabkommen im Zeichen der Migrationsabwehr oder der Auslagerung von Asylverfahren setzt sich dieser Trend fort, insbesondere im Hinblick auf die unterstellte konsequente Einhaltung von Menschenrechten.[4]
Es ist in der Migrationsforschung weithin anerkannt, dass Migrationsprozesse hochgradig komplex sind. Migrationsabsichten und -fähigkeiten sind kontextabhängig, dynamisch und auf aggregierter Ebene nur schwer vorhersagbar. Änderungen in den globalen Fluchtbewegungen lassen sich nach wie vor am besten durch Konfliktgeschehen und Verfolgung in Herkunfts- und Transitländern erklären.[5] Geflüchtete bleiben in erste Linie in den unmittelbaren Nachbarländern. Der Forschungstand zeigt zudem, dass persönliche Netzwerke und bestehende Communities bei der Wahl des Ziellands eine viel größere Rolle spielen als Asylpolitik[6]. Jene Netzwerke unterstützen auch maßgeblich die Integration von Geflüchteten.[7] Eine Studie im deutschen Kontext hat auch gezeigt, dass eine der bekanntesten Maßnahmen im Jahr 2015, die vorübergehende Aufhebung des Dublin-Verfahrens oder der sogenannte “Wir schaffen das”-Moment keine langfristigen Auswirkungen auf die Migrationszahlen nach Deutschland hatten.[8]
Unsere Forschung zu Migrationsabsichten in der Türkei und im Libanon zeigt, dass das Fehlen nachhaltiger lokaler Teilhabechancen dazu führt, dass Syrer*innen und andere Gruppen, einschließlich der Aufnahmegesellschaften, Migrationsabsichten entwickeln und dabei eine wichtigere Rolle spielt als ökonomische Faktoren.[9] An diesen gesellschaftlichen Faktoren setzen die Maßnahmen der gegenwärtigen Externalisierungspolitik jedoch nicht an. Beide Länder sind nach wie vor zentrale Aufnahmeländer für syrische Geflüchtete, verstehen sich jedoch nicht als Länder, in denen Syrer*innen und andere Geflüchtete dauerhaft integriert werden sollen. Beide Länder leiden seit Jahren unter schweren wirtschaftlichen und politischen Krisen, die mittlerweile zu hohen Armutsquoten in der gesamten Wohnbevölkerung geführt haben.[10] Dabei sind Geflüchtete den Folgen dieser Krisen und politischen Repressionen besonders stark ausgesetzt und berichten zunehmend von gewaltsamen Diskriminierungserfahrungen. Die herrschende Straflosigkeit in der Türkei und die grundsätzlich fehlenden staatlichen Kapazitäten im Libanon lassen wenig Spielraum, um den Geflüchteten innerhalb der Länder entgegenzukommen. Angesichts des Forschungstandes ist davon auszugehen, dass der Migrationsdruck in beide Ländern nicht aufhören wir. Daher werden sich die suggerierten Steuerungseffekte (weniger irreguläre Migration in Richtung EU) der gegenwärtigen europäischen Externalisierungspolitik aller Voraussicht nach nicht im erwarteten Maße einstellen.
Die EU-Türkei-Erklärung ist lehrreich und keine geeignete Blaupause
Bei der im März 2016 geschlossenen EU-Türkei-Erklärung[11] handelt es sich um eine relativ umfassende Vereinbarung, in der flüchtlingspolitische Fragen mit anderen politischen Themen, wie z.B. Visafreiheit oder Zollunion verknüpft werden[12]. Mit Blick auf die Flüchtlingspolitik besteht sie aus drei zentralen Elementen: Erstens die türkische Seite verpflichtet sich, seine westlichen Grenzen zu stärken und verhindert dabei die Weiterreise potenzieller Asylsuchender in EU-Staaten. Zweitens nimmt die Türkei alle „irregulären Migranten“ zurück, die nach dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln angekommen sind, wofür in gleichem Ausmaß Resettlement stattfinden soll. Drittens erhält die Türkei für die Versorgung von Geflüchteten milliardenschwere finanzielle Unterstützung. Viele politischen Akteur*innen sehen in der EU-Türkei-Erklärung seither eine Blaupause [13].
War das Abkommen schon bei seiner Verabschiedung aufgrund politischer und humanitärer Bedenken umstritten, so zeigt sich mittlerweile deutlich, dass es als Vorbild für eine nachhaltige und humane Migrationspolitik ungeeignet ist.[14] Zwar finanzierten EU-Gelder wichtige Programme, die u.a. den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schulen für Geflüchtete unterstützen, jedoch blieb ein Großteil dieser Maßnahmen auf die registrierte syrische Bevölkerung beschränkt.[15] Da zudem auch den meisten Syrer*innen der Zugang zum formellen Arbeitsmarkt verwehrt ist, bleibt auch die wirtschaftliche Lage der geschätzt mehr als 4 Millionen Geflüchteten in der Türkei Jahre nach Abschluss des Abkommens weiterhin prekär[16]. Das verdeutlichen auch Daten aus dem TRANSMIT Forschungsprojekt. Quantitative Datenerhebungen zwischen 2020 und 2022, die auf eine repräsentative Stichprobe der syrischen Bevölkerung in der Türkei abzielten, zeigen eine hohe Erwerbstätigkeit unter Syrern jedoch überwiegend prekäre Beschäftigungsverhältnisse: In 2020/21 arbeiteten rund 60% der Befragten Beschäftigen als Tagelöhner. Zudem sehen wir kaum Verbesserungen der Erwerbssituation im Zeitverlauf bzw. mit der Dauer des Aufenthaltes in der Türkei[17].
Angesichts massiver Inflation und eines zunehmenden fremdenfeindlichen öffentlichen Diskurses verschlechterte sich die Lage der Geflüchteten in den vergangenen Jahren noch einmal drastisch. Wie unsere Umfragen zeigen, hat sich zwischen 2020 und 2022 der Anteil der syrischen Bevölkerung deren Einkommen nicht ausreicht, um ihren Nahrungsmittelbedarf zu decken von 15% auf 35% mehr als verdoppelt. Die Zahl derer, die berichten, häufig Diskriminierungserfahrungen zu machen, hat sich im selben Zeitraum sogar auf 22% vervierfacht. Damit beträgt der Anteil der Syrer*innen, die in der Türkei von häufiger Diskriminierung berichten, weit über den 4%-10% die 2020 für Geflüchtete in Deutschland gemessen wurden. Im Präsidentschaftswahlkampf 2023 überboten sich die Kandidaten in ihrer anti-migrantischen Rhetorik. Zudem häufen sich Berichte, denen zufolge die türkische Regierung syrische Geflüchtete in intransparenten Prozessen in ihre Heimatländer unfreiwillig zurückführt und somit gegen das Grundprinzip des Non-Refoulement verstößt. Viele Syrer*innen waren bei Ihrer Einreise zudem von Zurückweisungen an der türkischen Grenze betroffen.[18]
Unsere Forschung zeigt, dass neben Sorgen um den Lebensunterhalt besonders Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und fehlende politische Repräsentation dazu beitragen, dass syrische Geflüchtete eine erneute Migration in Betracht ziehen. Im Jahr 2022 sagten 30% der befragten Syrer*innen aus, sie hätten konkrete Pläne die Türkei zu verlassen. Dieser Wert liegt deutlich höher als in den vergangenen Jahren.[19] Gleichzeitig fehlt es vielen Personen an der Möglichkeit, diese Absichten in die Tat umzusetzen, beispielsweise weil Mittel und Zugänge – nicht zuletzt wegen der EU-Externalisierungspolitik – fehlen oder um die Familie räumlich nicht zu trennen.
Rückblickend lässt sich erkennen, was viele Beobachter*innen schon zum Zeitpunkt der Unterzeichnung befürchtet hatten: Das EU-Türkei-Abkommen hat nicht nachhaltig dazu beigetragen, für die humanitäre Not vieler Geflüchteter langfristige Lösungen zu schaffen und es fehlt ihnen an Möglichkeiten für eine dauerhafte soziale Teilhabe. Die Situation wird immer instabiler, da es zu zunehmenden verbalen und teilweise auch physischen Angriffen auf die Geflüchteten kommt und sich die Politik eindeutig in Richtung Abschreckung verlagert, wozu auch umfangreiche (und rechtswidrige) Inhaftierungs- und Rückführungspraktiken gehören.[20]
Das neue Libanon Abkommen –von Beginn an zum Scheitern verurteilt?
Anfang Mai 2024 kündigte EU-Kommissionpräsidenten Ursula von der Leyen ein Finanzierungspaket an[21], das auch als Migrationsabkommen bezeichnet wird[22]. Beobachter*innen sehen neben der sich seit Jahren dramatisch verschlechternden humanitären Lage im Libanon und der politischen Destabilisierung durch den Krieg in Israel und Gaza die zunehmenden Fluchtbewegungen nach Zypern über das Meer als ausschlagegebend.[23]
Konkret sagte die EU zusätzliche finanzielle Mittel im Umfang von einer Milliarde Euro im Zeitraum von 2024 bis 2027 zu. Der EU-Kommission zufolge sollten die Mittel für drei Bereiche verwendet werden. Erstens, für die Finanzierung von Dienstleistungen im Bereich Bildung, Gesundheit, Sozialschutz und Wasserversorgung für die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen, darunter Libanes*innen selbst. Zweitens, für die Finanzierung von Reformen, insbesondere der vom Internationalen Währungsfonds geforderten Reformen, inklusive im Bankensektor, mit dem Ziel der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage. Drittens, für die finanzielle Unterstützung des Grenz- und Migrationsmanagements, einschließlich der Bekämpfung von Menschenhandel und Schmuggel, durch die verstärkte Unterstützung für die libanesischen Streitkräfte. Was das Abkommen nicht enthält, vor allem im Vergleich mit der EU-Türkei-Erklärung, sind zusätzliche Möglichkeiten der regulären und sicheren Flucht oder Migration in EU-Staaten. Im Jahr 2023 wurden nur 2.800 Geflüchtete über das übliche Resettlement in EU-Staaten gebracht[24].
Auch der Fokus auf das Grenz- und Migrationsmanagement, welcher der Migrationsabwehr dient und dem ein besonderes Gewicht beigemessen wird[25] ist hochgradig problematisch und erkennt die lokalen Realitäten nicht an. Noch im Oktober 2023 sollten deutsche Staatsbürger*innen das Land verlassen, da sich die Sicherheitslage im Zuge des Krieges in Israel und Gaza verschlechtert hatte. Jetzt sollen Syrer*innen genau daran gehindert werden, trotz ihrer oft widrigen Lebensumstände und obwohl es seither zu Gefechten im Süden des Libanon gekommen ist und zuletzt auch zu erzwungenen Rückführungen von syrischen Geflüchteten nach Syrien durch libanesische Streitkräfte.[26] Laut EU solle es keine erzwungenen Rückführungen nach Syrien geben, doch auch nach dem angekündigten Abkommen gab es gegenteilige Berichte.[27] Auch unsere TRANSMIT Daten zeichnen ein anderes Bild. In unserer 2023 im Libanon durchgeführten Umfrage gab einer von 20 befragten Syrer*innen an, mindestens eine Person im Familien- und Freundeskreis zu haben, die gegen ihren Willen gezwungen wurde, nach Syrien zurückzukehren.
NGOs sehen das Risiko, dass das Abkommen dazu beiträgt, dass Rückkehrprogramme in sogenannte “sichere Zonen“ in Syrien ausgebaut werden[28], wie es bei der Praxis der Türkei zu sehen ist[29]. Auch gebe es keine Verbesserung beim Monitoring von Menschenrechtsverletzung. In der gegenwärtigen Ausgestaltung macht sich die EU daher noch stärker als bisher zur Komplizin von gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der Normalisierung von umfangreicher Migrationsabwehr.
Bedenken bestehen auch hinsichtlich der konkreten Umsetzung der anderen Interventionsbereiche. Das soziale Sicherungssystem und die öffentliche Gesundheitsversorgung des Libanon sind in Folge einer der schwersten Wirtschaftskrisen der Neuzeit[30] und weit verbreiteter Korruption in weiten Teilen zusammengebrochen. Die Versorgungslage ist gleichzeitig hochgradig prekär und extreme Armut mittlerweile weit verbreitet.[31] In unserer Datenerhebung in 2022 gaben über die Hälfte unserer Befragten – darunter sowohl syrische Geflüchtete als auch Libanes*innen an, dass sie ihren Nahrungsmittelbedarf nicht durch ihr Einkommen decken können. Der Anteil von Befragten, deren Einkommen nicht für andere Grundbedürfnisse ausreichend ist, liegt weit darüber (96% unter Syrer*innen, 81% unter der „host population“).[32] Die Versorgung mit Gütern des täglichen Lebens und der sozialen Sicherung ist nicht zentral durch den Staat organisiert, sodass internationale und zivilgesellschaftliche Akteure, die bereits langjährig und stark unterfinanziert vor Ort arbeiten[33], von besonderer Bedeutung sind.
Zusammenfassend lässt sich für beide Fallstudien festhalten, dass der Zugang zu Schutz nur partiell erfolgt ist, was nicht zuletzt durch die Verletzung des Non-Refoulement-Verbots deutlich wird. Geflüchtete sind zudem strukturell mit anhaltender Armut und Diskriminierung konfrontiert. Die Vereinbarungen haben insgesamt einen starken Fokus auf Migrationskontrolle. Reguläre Wege in aufnahmebereite sichere Drittstaaten gibt es nur in sehr begrenztem Umfang. Um “dauerhafte Lösungen” für syrische und andere Geflüchtete zu erreichen sind langfristige Alternativen zu den gegenwärtigen Maßnahmen erforderlich.
Handlungsmöglichkeiten um Aufnahmesysteme und die Situation von Geflüchteten zu verbessern
Aufgrund anhaltender politischer Krisen, der ungleichen globalen Verteilung des Wohlstands und der weltweiten Stärkung autoritärer Regime und Praktiken[34], sowie den komplexen und sich verstärkenden Folgen des menschengemachten Klimawandels ist davon auszugehen, dass die Zahl der Geflüchteten auch weiterhin einem Aufwärtstrend folgt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit für den Aus- und Aufbau langfristiger Strukturen, die so angelegt sind, dass sie flexibel auf neue Entwicklungen und Trends reagieren können.
Für einen solidarischen Umgang mit Fluchtmigration und einen glaubwürdigen Beitrag zur internationalen Verantwortungsteilung, der auch für den nachhaltigen und auf Menschenrechte ausgerichteten Erfolg von Abkommen mit Drittstaaten erforderlich ist, sollten folgende Interventionsbereiche gleichermaßen vorangetrieben werden:
Regionale Schutzsysteme in Erstaufnahme- und Transitkontexten stärken
Steigende Asylantragszahlen in der EU müssen immer vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass der überwiegende Teil von Geflüchteten in ihren Herkunftsländern (als IDPs) oder Herkunftsregionen und oft in politisch fragilen und ökonomisch ärmeren Staaten, als der EU leben[35]. Es ist grundsätzlich begrüßenswert und im Sinne der gewünschten internationalen Verantwortungsteilung, Erstaufnahme- und relevante Transitländer, die oft zu dauerhaften Aufenthaltsländern werden, bei der Aufnahme von Geflüchteten zu unterstützen.
Wie die Beispiele der Türkei und des Libanon verdeutlichen, ist es weder erfolgsversprechend noch im Sinne der internationalen Verantwortungsteilung, dabei die Migrationsabwehr zu priorisieren. Abkommen mit Erstaufnahme- und Transitländern müssen anders aufgebaut sein: Es braucht langfristige Perspektiven (durable solutions) in unterschiedlichen räumlichen Kontexten, effektive Accountability Mechanismen im Falle von Menschenrechtsverletzungen[36] und der Nichteinhaltung von Zusagen (z.B. Resettlementquoten, Finanzierungszusagen humanitärer Hilfe), sowie Mechanismen zur Nachsteuerung jenseits der Migrationsabwehr im Falle sich ändernder Migrationsgeschehen. Auch verdeutlichen die wirtschaftlich prekären Verhältnisse in zahlreichen Aufnahmekontexten, dass bedarfsorientierte lokale Unterstützungsleistungen (z.B. Zugang zu sozialen Infrastrukturen) auch Mitglieder der Aufnahmegesellschaften adressieren sollten[37].
Reguläre Wege für Schutzsuchende und andere Migrant*innen nach Deutschland ausbauen
Eine neue IOM-Studie[38] verdeutlicht, dass reguläre Zugangswege insgesamt zurückgehen und auf globaler Ebene derart ungleich verteilt sind, dass den Bevölkerungen einiger Länder kaum Chancen auf reguläre Migrationswege zur Verfügung stehen. Auch eine ältere Studie konnte aufarbeiten, dass bestehende Zugangswege auf globaler Ebene systematisch zu Gunsten von Bürger*innen aus OECD-Ländern verteilt sind[39]. Nur eine deutliche Ausweitung regulärer Zugangswege könnte dieser massiven Ungleichverteilung spürbar entgegenwirken und dem auf mangelnden Zugangswegen basierenden Geschäftsmodell von Schleppern etwas entgegensetzen.
Die Ausweitung humanitärer Aufnahmeprogramme ist auch vor diesem Hintergrund zu befürworten und leistet einen Beitrag für die internationale Verantwortungsteilung. Besonders kritisch sehen wir jedoch politische Vorschläge, die das individuelle Grundrecht auf Asyl in Deutschland oder der EU insgesamt abschaffen und durch freiwillige Kontingente ersetzen wollen. Unsere Forschung zum Humanitären Aufnahmeprogramm aus Afghanistan[40] zeigt exemplarisch, dass diese eine wichtige Rolle als zusätzlicher regulärer Zugangsweg für Geflüchtete spielen können. Jedoch können sie auf keinen Fall ein individuelles Asylrecht ersetzen. Durch die Notwendigkeit von Gatekeepern im Zugang zu diesen Programmen wird deutlich, dass sie nicht alle gewünschten Zielgruppen erreichen und beispielsweise Personengruppen stärker begünstigen, die Zugang zu Netzwerken haben.
Investitionen in die Aufnahme- und Integrationsinfrastruktur in Deutschland tätigen
Der Umgang mit Flucht bleibt auch in Deutschland und anderen EU-Staaten eine Daueraufgabe und erfordert daher anhaltende und auf Langfristigkeit ausgelegte Investitionen in die Asyl-, Aufnahme- und Integrationsinfrastrukturen. Auch ist zu beachten, dass die unterstellte „kommunale Überforderung“ in Deutschland keineswegs überall attestiert werden kann[41] – es besteht die Notwendigkeit und Möglichkeit für adaptive und auf lokale Realitäten angepasste Lösungsansätze. Handlungsansätze bestehen beispielsweise in einer besseren und langfristigen Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Akteuren und ein besseres „Matching“ von Ankommenden mit aufnehmenden Kommunen[42]. Auch sollten allgemeine sozialpolitische Maßnahmen stärker in den Vordergrund treten, welche die Wohnbevölkerung insgesamt einbeziehen (etwa in Bezug auf erschwinglichen Wohnraum, Fachkräftemängel im Bildungssystem, usw.).
Fußnoten
[1] Baldwin-Edwards, M. et al. (2019). The politics of evidence-based policy in Europe’s ‘migration crisis’. Journal of Ethnic and Migration Studies. https://doi.org/10.1080/1369183X.2018.1468307.
[2] z.B. Stellungnahmen zur Bezahlkarte von Noa Ha (2024): Deutscher Bundestag, Ausschussdrucksache 20(11)472; Brücker, H. (2024): Stellungnahme: Wissenschaftliche Einschätzung der Bezahlkarte für Geflüchtete, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).
[3] Sánchez A. et al. (2023). Search-and-rescue in the Central Mediterranean Route does not induce migration. https://doi.org/10.1038/s41598-023-38119-4.
[4] Dieser Beitrag basiert auf und ergänzt eine Stellungnahme der Migrationsabteilung des DeZIM-Instituts zur Sachverständigenanhörung im Bundesministerium des Innern und Heimat (BMI) am 13.05.2024 zu Asylverfahren in Drittstaaten. https://www.dezim-institut.de/aktuelles/dezim-stellungnahme-feststellung-des-schutzstatus-zukuenftig-auch-in-transit-oder-drittstaaten/.
[5] z.B. Fransen, S. & de Haas, H. (2021). Trends and Patterns of Global Refugee Migration. Population and Development Review. https://doi.org/10.1111/padr.12456.
[6] Ibid; Moore, W.H. & Shellmann (2007) Whither Will They Go? International Studies Quarterly https://doi.org/10.1111/j.1468-2478.2007.00478.x; Hunkler et al. (2022). Spatial and social im/mobility in forced migration: revisiting class. Journal of Ethnic and Migration Studies. https://doi.org/10.1080/1369183X.2022.2123431.
[7] Brücker, H. et al. (2023). Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Ergebnisse der ersten Welle der IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP Befragung; Brücker, H. et al. (2016). IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Flucht, Ankunft in Deutschland und erste Schritte der Integration.“ IAB-Kurzbericht, No. 24/2016.
[8] Tjaden, J.& Heidland, T. (2024). Did Merkel’s 2015 decision attract more migration to Germany?. https://doi.org/10.1111/1475-6765.12669.
[9] Ruhnke, S. & Rischke, R. (2024, forthcoming). Predicting mobility aspirations in Lebanon and Turkey: A data-driven exploration using machine learning. Data & Policy.
[10] Das zeigen beispielsweise unsere TRANSMIT Daten: https://transmit-dezim.github.io/transmit-data-explorer/. TRANSMIT (Transnational Perspectives on Migration and Integration) ist ein Verbundprojekt der DeZIM Forschungsgemeinschaft, das durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanziert ist. Für mehr Informationen: https://www.dezim-institut.de/projekte/projekt-detail/transnational-perspectives-on-migration-and-integration-transmit-7-13/.
[11] Umgangssprachlich auch EU-Türkei Abkommen, dessen Rechtmäßigkeit umstritten ist (Vitiello, D. (2020). Legal Narratives of the EU External Action in the Field of Migration and Asylum: From the EU-Turkey Statement to the Migration Partnership Framework and Beyond. In: V. Mitsilegas et al. (Hrsg.), Securitising Asylum Flows.).
[12] European Council. (2016). EU-Turkey statement, 18 March 2016. https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2016/03/18/eu-turkey-statement/.
[13] Terry, K. (8. April 2021). The EU-Turkey Deal, Five Years On: A Frayed and Controversial but Enduring Blueprint. https://www.migrationpolicy.org/article/eu-turkey-deal-five-years-on; Koenig, N. & Walter-Franke, M. (17. März 2017). One year on: What lessons from the EU-Turkey ‘deal’?. https://www.delorscentre.eu/fileadmin/user_upload/20170317_EU-Turkey-deal-one-year-on-NK-MW.pdf.
[14] z.B. Ineli-Ciger, M. & Ulusoy, O. (7. Oktober 2020). Why the EU-Turkey Statement should never serve as a blueprint. https://www.asileproject.eu/why-the-eu-turkey-statement-should-never-serve-as-a-blueprint/; Ruhnke, S. A. (2021). Data Brief: The EU-Turkey Deal as a successful Blueprint? https://www.projekte.hu-berlin.de/en/merge/publications/turkeydatabrief-1121.pdf; Human Rights Watch. (14. November 2016). Q&A: Why the EU-Turkey Migration Deal is No Blueprint. https://www.hrw.org/news/2016/11/14/qa-why-eu-turkey-migration-deal-no-blueprint.; Yildiz (2020) Impact of the EU–Turkey Statement on Smugglers’ Operations in the Aegean and Migrants’ Decisions to Engage with Smugglers https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/imig.12767.
[15] Karadağ, S. & Üstübici, A. (2021). Protection during pre-pandemic and COVID-19 periods in Turkey, ADMIGOV Deliverable 4.2. https://admigov.eu/upload/Deliverable_42_Karadag_Protection_Turkey.pdf.
[16] Ruhnke, S. A. (2021). Data Brief: The EU-Turkey Deal as a successful Blueprint? https://www.projekte.hu-berlin.de/en/merge/publications/turkeydatabrief-1121.pdf.; Demirci, M. & Kirdar, M. G. (2023). The labor market integration of Syrian refugees in Turkey https://doi.org/10.1016/j.worlddev.2022.106138.
[17] Gundacker, L. et al. (2024, forthcoming). Six years after the EU-Turkey Agreement: A quantitative assessment of the living conditions of Syrians in Turkey. IAB Kurzbericht.
[18] Jancewicz, B. (2021). Syrians in Turkey – Experiences of migration and integration through a survey study. Https://www.academia.edu/45142974/Syrians_in_Turkey_Experiences_of_migration_and_integration_though_a_survey_study.
[19] Fabbe, K. et al. (2017). What Do Syrians Want Their Future to Be? A Survey of Refugees in Turkey. https://www.foreignaffairs.com/articles/syria/2017-05-01/what-do-syrians-want-their-future-be?cid=int-lea&pgtype=hpg&utm_content=buffer61c28&utm_medium=social&utm_source=twitter.com&utm_campaign=buffer; Düvell, F. et al. (2021). How Many Syrian Refugees in Turkey Want to Migrate to Europe and Can Actually Do So? Results of a Survey Among 1,900 Syrians. DeZIM Research Notes 5.
[20] Kaşlı, Z. & Yanaşmayan, Z. (forthcoming). Penalizing migration and a culture of impunity: The case of Turkey’s unwanted noncitizens. In: G. Fabini et al. (Hrsg)., Border Criminologies from the periphery: Cross-national conversations on bordered penality; Erdoğan, M. (2021). Suriyeliler Barometresi. https://www.unhcr.org/tr/wp-content/uploads/sites/14/2023/01/SB-2021-TR-MME-FINAL-19-Ocak-2023.pdf; Sunata, U. & Erduran, S. (2022). Practicing Law in Administrative Detention for Syrian Refugees in Turkey, Journal of Immigrant & Refugee Studies. https://doi.org/10.1080/15562948.2021.1926611; Şahin-Mencütek, Z. (2022). The Institutionalization of “Voluntary” Returns in Turkey Migration and Society, Migration and Society: Advances in Research. https://doi.org/10.3167/arms.2022.050105.
[21] Die EU unterstützt den Libanon und auch Geflüchtete im Libanon seit vielen Jahren. Seit 2011 hat die EU den Libanon mit mehr als 3 Mrd. EUR unterstützt, davon 2,6 Mrd. EUR zur Unterstützung der syrischen Flüchtlinge und der Aufnahmegemeinschaften in Libanon. Siehe: Europäische Kommission. (2024). President von der Leyen reaffirms EU’s strong support for Lebanon and its people and announces a €1 billion package of EU funding, https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/news/president-von-der-leyen-reaffirms-eus-strong-support-lebanon-and-its-people-and-announces-eu1-2024-05-02_en.
[22] z.B. ECRE. (2024). EU External Partners: Member States Push for Outsourcing of Migration Procedures to Third Countries – EU Signs € 1 Billion Migration Deal with Lebanon – Tunisian Authorities Expel Hundreds of Migrants to Border with Algeria – Migrants Released from Detention in Libya. https://ecre.org/eu-external-partners-member-states-push-for-outsourcing-of-migration-procedures-to-third-countries-%e2%80%95-eu-signs-e-1-billion-cash-for-migrants-deal-with-lebanon-%e2%80%95-tunis/.
[23] Mediendienst Integration. (2024). „Ein EU-Libanon Abkommen wird wenig bewirken“. https://mediendienst-integration.de/artikel/ein-eu-libanon-abkommen-wird-wenig-bewirken.html.
[24] Zudem häufen sich Berichte, nachdem die türkische Regierung syrische und afghanische Geflüchtete in intransparenten Prozessen in ihre Heimatländer „freiwillig“ zurückführt – ein Verstoß gegen das Grundprinzip des Non-Refoulement.
[25] z.B. Statement by Bridges of Truth Member Organizations. (2024). https://mcusercontent.com/1d074ab001e1717ab129127f6/files/df61c892-831f-633c-3763-468c46a24524/Final_English_Statement_all_inclusive_.pdf,
[26] z. B. Amnesty International. (2024). Lebanon: Hundreds of thousands of Syrian refugees at imminent risk of deportation. https://www.amnesty.org/en/documents/mde18/8051/2024/en/; Centre for Strategic & International Studies. (2024). Lebanon’s Dangerous Campaign against Refugees, https://www.csis.org/analysis/lebanons-dangerous-campaign-against-refugees?trk=feed_main-feed-card_feed-article-content.
[27] Petillo, K. (2024). Strategic aid: How the EU-Lebanon migration deal can work. European Council on Foreign Relations. https://ecfr.eu/article/strategic-aid-how-the-eu-lebanon-migration-deal-can-work/.
[28] Access Center for Human Rights et al. (2024). Lebanon: Joint Statement – Respect International Law in EU-Lebanon Migration Deal. https://reliefweb.int/report/lebanon/lebanon-joint-statement-respect-international-law-eu-lebanon-migration-deal-enar.
[29] Global Detention Project. (2021). Turkey. https://www.globaldetentionproject.org/countries/europe/turkey#country-report; Chulov, M. et al. (2019). Syrian refugees in Beirut and Istanbul detained and deported. https://www.theguardian.com/world/2019/jul/29/syrian-refugees-in-beirut-and-istanbul-detained-and-deported.
[30] World Bank Group. (2021). Lebanon Sinking into One of the Most Severe Global Crises Episodes, amidst Deliberate Inaction. https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2021/05/01/lebanon-sinking-into-one-of-the-most-severe-global-crises-episodes.
[31] Krafft, C. et al. (2022) How do policy approaches affect refugee economic outcomes? Insights from studies of Syrian refugees in Jordan and Lebanon. Oxford Review of Economic Policy. https://doi.org/10.1093/oxrep/grac019.
[32] TRANSMIT Daten Explorer (2024) https://transmit-dezim.github.io/transmit-data-explorer/
[33] Singh, N. S. et al. (2020). Healthcare financing arrangements and service provision for syrian refugees in Lebanon. In: K. Bozorgmehr et al. (Hrsg.), Health Policy and Systems Responses to Forced Migration. https://doi.org/10.1007/978-3-030-33812-1.
[34] V-Dem Institute. (2024). Democracy Report 2024: Democracy Winning and Losing at the Ballot. https://v-dem.net/documents/44/v-dem_dr2024_highres.pdf.
[35] UNHCR. (2023). Global Trends Report 2023. https://www.unhcr.org/global-trends-report-2023.
[36] Guest, A. (2023). Frontex and Its Fundamental Rights Officer. In: E. Guild (Hrsg.), Monitoring Border Violence in the EU: Frontex in Focus. https://doi.org/10.4324/9781003424710.
[37] United Nations (2018) Global Compact on Refugees.
[38] McAuliffe, M. & Oucho, L. A. (2024). World Migration Report 2024. International Organization for Migration (IOM). https://publications.iom.int/system/files/pdf/pub2023-047-l-world-migration-report-2024_0.pdf.
[39] Mau, S. et al. (2015). The Global Mobility Divide: How Visa Policies Have Evolved over Time. Journal of Ethnic and Migration Studies. https://doi.org/10.1080/1369183X.2015.1005007.
[40] Projekt: “Ortskräfte und andere Geflüchtete aus Afghanistan in Deutschland“, siehe: https://www.dezim-institut.de/projekte/projekt-detail/ortskraefte-und-andere-gefluechtete-aus-afghanistan-in-deutschland-3-21/
[41] Kühn, B. & Ziegler, F. (2024). Weiter am Limit? Zur Lage der Kommunen bei der Aufnahme Geflüchteter. Expertise, Mediendienst Integration.
[42] Ein vielversprechender Ansatz etwa hier: https://matchin-projekt.de/.