Kann die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen?

Uwe Berlit, Bundesverwaltungsrichter a.D., Honorarprofessor, Universität Leipzig*

 

Modelle einer „Auslagerung“ der Schutzfeststellung und -gewähr für Geflüchtete in Transit- oder Drittstaaten sind normativ nicht denklogisch ausgeschlossen und theoretisch so gestaltbar, dass sie im Einklang mit den zwingenden völker-, unions- und verfassungsrechtlich Vorgaben stehen. Selbst wenn die vielfältigen kurz-, mittel- und langfristig erwartbaren, erheblichen politischen, ethisch-moralischen. sozialen und fiskalischen Kosten und Nebenwirkungen ausgeblendet und die gravierenden logistischen, technischen und operativen Umsetzungsprobleme vernachlässigt werden, sind die postulieren migrationspolitischen Ziele oder Effekte real nicht zu erreichen. Die Fokussierung der Debatte auf Auslagerungsansätze versperrt vor allem den Blick auf diskurswürdigere Regulierungsansätze jeweils geringerer Reichweite, die im Zusammenwirken höhere Wirkung erwarten lassen.

 

I. Zur Fragestellung

1. Möglichkeiten und Grenzen einer Auslagerung der Statusfeststellung von Schutzsuchenden[1] hängen (auch) rechtlich maßgeblich davon ab, wie dieses Modell ausgestaltet werden soll. Nicht beliebig kombinierbare „Modelldimensionen“ mit je eigenen, für die rechtliche Beurteilung potentiell erheblichen Unterfragen sind u.a. die Ebene der Strategiefindung und Umsetzung (Nationalstaaten/EU), die Bedeutung, die der „Achtung“ der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention beigemessen wird, die Verlagerung nur der Feststellungs- oder auch der Folgeverantwortung, der Umfang der an einer Finanzierungsverantwortung anknüpfenden Kontroll- oder Direktions-/Interventionsrechte, die Bedeutung, die einer nicht nur vertraglich und sonst rechtlich aufgegebenen, sondern auch real gesicherten, effektiven Einhaltung von Schutzstandards beigemessen wird (z.B. Monitoring- oder sonstigen Kontrollmechanismen), das Niveau, das bei Rechtsschutzmöglichkeiten – des Transit- bzw. Drittstaates oder der Bundesrepublik Deutschland – erhalten bleiben/garantiert, eingeschränkt oder ausgeschlossen werden sollen, das Verhältnis zur Schutzprüfung bei Territorialbezug, der erfasste Personenkreis (z.B.: alle/ausgewählte Personen<gruppen> vor/nach einer Einreise in das Bundesgebiet; Auswahlkriterien; Umgang mit besonders vulnerablen Personen?), die erfassten Schutzstellungen, die Verteilung der rechtlichen, sachlichen und personellen Prüfungsverantwortlichkeit, die Verfahrens-, Schutz- und Unterstützungsstandards während und nach dem Verfahren und der Umgang mit und etwaige Folgeverantwortlichkeiten für bestandskräftig abgelehnte Schutzsuchende.[2] Potentielle Wirkungen und rechtliche Beurteilung einer Verlagerung hängen maßgeblich von deren Art, Umfang und rechtlichen Ausgestaltung sowie tatsächlicher Umsetzung ab.

2. Die Stellungnahme konzentriert sich auf ein „Ruandamodell“,[3] bei dem die Verantwortung für das Schutzverfahren (inkl. Rechtsschutz) und die Schutzsuchenden ohne substantielle Ingerenzrechte des Überstellerstaates jenseits der Finanzierungs- und Überstellungsverantwortung auf den Transit-/Drittstaat verlagert wird, der nach Abschluss des Schutzverfahrens auch – ohne oder mit konditionierten/kontingentierten Rückübernahmezusagen des Überstellerstaates – für die Schutzgewähr nach Anerkennung sowie den weiteren Umgang mit abgelehnten Schutzsuchenden in eigener Verantwortung und verantwortlich bleibt.

Das Italien/Albanien-Modell,[4] das schon wegen der geographischen Lage der Bundesrepublik Deutschland kein auf Einreiseverhinderung gerichtetes „Drittstaatsmodell“ i.e.S. sein kann, wirft wegen der exterritorialen Eigendurchführung durch die grundrechtsgebundene hoheitliche Gewalt der Bundesrepublik Deutschland spezielle, aber bei „good will“ der Vertragspartner grundsätzlich lösbare völker(vertrags)rechtliche Fragen auf. Es stieße bei mehr als punktueller Umsetzung vor allem auf gravierende technisch-logistische Umsetzungsprobleme – und soll ausgeblendet bleiben.

Mangels aktueller rechtspolitischer Durchsetzungschance ausgeblendet werden Ansätze von Informations-/Vorauswahlstellen in den wichtigsten Transitländern bis hin zum „Botschaftsasyl“ bzw. humanitären Visa zum Zwecke der Asylantragstellung,[5] die nicht primär auf die Reduktion von Einreisen durch Abschreckung, sondern auf die Schaffung sicherer Einreisekorridore gerichtet sind.

3. Eine rechtliche Perspektive darf im Gegensatz zu einer politisch verantwortlichen Entscheidung grundsätzlich auch die vielfältigen außerrechtlichen Dimensionen und Wirkungen einer Aus- bzw. Verlagerung flüchtlingsrechtlicher Verantwortlichkeiten ausblenden, etwa ethisch-moralische Aspekte, menschenrechts- und migrationspolitische „Nebenwirkungen“ insb. für den europäischen und internationalen Flüchtlingsschutz, die Bedeutung der Missachtung völkerrechtlicher „soft law“-Vereinbarungen zur migrationsrechtlichen Verantwortungsteilung, die Destabilisierung einzelner Länder und Regionen, das Ansehen Deutschlands und Europas in den betroffenen Drittstaaten und in der Welt (inkl. potentieller Wirkungen auf erwünschte Fachkräfteeinwanderung), die innenpolitische Durchsetzbarkeit (und die damit erreichbaren/verbundenen Wirkungen und Nebenwirkungen), den fiskalischen, personellen und sächlichen Aufwand (inkl. einer Abwägung dieser Kosten mit dem erreichbaren Grad der Erreichung welcher Ziele/welchen Nutzens) sowie – last but not least – die (stark modellabhängige) logistische, technische und operative Umsetzbarkeit. Bis zur Grenze der materiellen Verfassungswidrigkeit darf der demokratisch legitimierte Gesetzgeber auch symbolisches, real aber (weitgehend) wirkungsloses, weil nicht umsetzbares Recht setzen – wenngleich ich als Jurist und Citoyen auf die reale Bewältigung realer Probleme gerichtetes, empiriegestütztes Recht vorzöge.

4. Aus juristischer Perspektive werden die (erwartbaren oder eintretenden) Realeffekte bei der Wahrung völker-, unions- oder verfassungsrechtlicher Standards relevant. Die Beachtung von Standards muss nicht nur völkervertragsrechtlich zugesichert, sondern (im Großen und Ganzen sowie im Zeitverlauf stabil) tatsächlich hinreichend und „nachhaltig“ gesichert sein.

 

II. Rechtliche Voraussetzungen einer Verlagerung

1. Gesamteinschätzung

Normativ ist rein theoretisch ein Modell „Verbringung Drittstaatsangehöriger in einen aufnahmebereiten Drittstaat zur Durchführung der Schutzfeststellung in dessen Verantwortung“ völker-, unions- und verfassungsrechtlich rechtskonform gestaltbar, wenn und soweit die entsprechenden rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen völkervertragsrechtlich hinreichend belastbar (und auch im Zeitverlauf hinreichend stabil) geregelt werden und auch die deren tatsächliche Umsetzung/Beachtung hinreichend gewährleistet ist.

Praktisch halte ich bei einem skalierbaren, auch auf eine Vielzahl von Schutzgesuchen bezogenen Ansatz, der sich signifikant auf das Mengenaufkommen von Schutzgesuchen im Bundesgebiet auswirken soll, eine rechtskonforme Umsetzung zwar nicht für denklogisch, jenseits einer Fallzahl im drei- bis vierstelligen Bereich indes für tatsächlich ausgeschlossen. Bereits die bisherigen Ansätze von Externalisierung sehen sich zudem durchweg einem tatsachengestützten Vorwurf ausgesetzt, dabei insbesondere durch die Bedingungen der Unterbringung (inkl. de jure oder de facto-Inhaftierung) und die Verfahrensgestaltung im Drittstaat gegen internationale Menschenrechtsnormen verstoßen zu haben.

 

2. Allgemeiner Rechtsrahmen

Der Rechtsrahmen wird derzeit durch die Genfer Flüchtlingskonvention, das Regelungssystem des GEAS, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Grundgesetz bestimmt. Auch soweit diese Normen im sicheren Drittstaat weder unmittelbar noch sinngemäß gelten (sollten), binden sie doch die Bundesrepublik Deutschland bei der Entscheidung, ob von einer konventions- oder unionsrechtlich eröffneten Befugnis zur Verantwortungsverlagerung Gebrauch gemacht werden darf.

Wird die Wendung „unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention“ dahin verstanden, dass es auch jenseits einer völkervertragsrechtlichen Bindung („Anwendbarkeit“) um die Bindung auch an die materiellen Standards geht, sind nicht die Grenzen zu prüfen, die Unionsprimärrecht und allgemeine Grundsätze des Völkerrechts einem Versuch der Bundesrepublik Deutschland setzten, sich formell und materiell den Bindungen an GFK und EMRK durch Externalisierung der Schutzfeststellung durch Überantwortung der Verfahrens- und Prüfanforderungen an selbst nicht völkervertragsrechtlich an EMRK und GFK gebundene Drittstaaten setzen.

Die anstehende Reform des GEAS[6] wird den unionsrechtlichen Handlungsrahmen vor allem in Bezug auf die nach der GFK, Art. 38 RL 2013/32/EU und Art. 16a GG grundsätzlich statthafte Verweisung auf einen „sicheren Drittstaat“ (und dessen Definition) sekundärrechtlich in einem Umfang erweitern, der an der vollständigen Kompatibilität mit dem Primärrecht (insb. Art. 18, 19 GRC; Art. 78 AEUV) aufwirft, die ihrerseits rückzukoppeln sind an GFK und die EMRK. Soweit die beiden letztgenannten Konventionen im Drittstaat nicht gelten und von diesem nicht gezeichnet sind, befreit diesen nicht automatisch von der Wahrung der durch diese Regelwerke etablierten Schutzstandards durch den verweisenden Staat.

Art. 59 E-AsylverfahrensVO[7] begrenzt die bisherigen Anforderungen an den Drittstaat auf einen „effektiven“ bzw. wirksamen Schutz (Art. 57 E-AsylverfahrensVO), dessen Kompatibilität mit GFK-Standards durch eine konventionskonforme Auslegung erreichbar ist; personengruppenbezogene Rückausnahmen werden zugelassen. Das „Verbindungselement“ (Art. 59 Abs. 5 Nr. 2 E-AsylverfahrensVO), dass zwischen dem Antragsteller und dem betreffenden Drittstaat eine Verbindung besteht, aufgrund deren es sinnvoll wäre, dass er sich in diesen Staat begibt, bleibt auch bei entsprechenden Vereinbarungen zwischen der EU und dem sicheren Drittstaat erhalten (Art. 59 Abs. 7 E-AsylverfahrensVO [„unbeschadet“]). Der Drittstaat muss Nichtstaatsangehörige vor flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung, ernsthaftem Schaden (subsidiärer Schutz), Abschiebung/Zurückweisung bei Gefahren (sachlich) i.S.d. Art. 3 EMRK schützen und die Möglichkeit eröffnen, wirksam Schutz i.S.d. Art. 57 E-AsylverfahrensVO (Verbleib, Lebensunterhaltssicherung und Gesundheitsversorgung auf dem Niveau des Drittstaates, Zugang zu Bildung) zu beantragen und bei Erfüllung der Bedingungen auch im Zeitverlauf zu erhalten.

Die Möglichkeit, wirksamen Schutz zu beantragen, hat auch die Möglichkeit zu umfassen, gegen ablehnende Entscheidungen um wirksamen Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte nachsuchen zu können. Um fair und wirksam zu sein, muss das Asylverfahren rechtsstaatliche Mindeststandards erfüllen und bei Versagung von Schutz einer wirksamen Kontrolle durch ein unabhängiges Gericht unterliegen. Art. 13 EMRK und Art. 47 GRC unterstreichen lediglich die zentrale Bedeutung gerichtlicher Kontrolle bei der Durchsetzung (auch) von Menschenrechten, der selbstverständlicher Teil eines rechtsstaatlichen und konventionskonformen Antragsverfahrens ist. Unabhängig von Geltung oder Anwendbarkeit der GFK, der EMRK oder des Unionsrechts und vorbehaltlich weitergehender abweichender Vereinbarungen müssen aber bei einem rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden gerichtlichen Kontrollsystem nicht die Detailausformungen der AsylVerfahrensRL/-VO umgesetzt werden.

 

3. Gerichtliche Kontrolle (auch der Verbringungsentscheidung)

Das Kernproblem sind daher – neben der Skalierbarkeit bzw. „Massentauglichkeit“ – weniger die normativen Anforderungen als deren (hinreichend nachhaltige) Einhaltung auch im Zeitverlauf („Monitoring“) und deren (auch) gerichtliche Kontrolle.

Der Durchführung des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist bei dem Ruandamodell die Entscheidung über die Verbringung einer schutzsuchenden Person in diesen sicheren Drittstaat vorgelagert. Diese nationale Verbringungsentscheidung ist nach Konventions-, Unions- und nationalem Verfassungsrecht einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle ausgesetzt: In jedem Einzelfall ist zu prüfen und zu entscheiden ist, ob die Anwendungsvoraussetzungen für das Konzept des sicheren Drittstaates (Art. 59 Abs. 4 bis 6 E-AsylverfahrensVO) zur Anwendung kommen. Jedenfalls in Fällen, in denen als Folge einer Verbringung eine Verletzung des Art. 3 EMRK im Raum steht, ist nach der Rechtsprechung des EGMR[8] und des EuGH[9] zu Dublinüberstellungen davon auszugehen, dass auch bei fortbestehender Einstufungsentscheidung durch die Kommission oder den jeweiligen Nationalstaat eine Inzidentprüfung der tatsächlichen Beachtung der menschenrechtlich relevanten Anwendungsvoraussetzungen durch die zuständige Behörde und ggfls. die nationalen Gerichte vorzunehmen. Es ist im nationalen Raum ein (auch) unionsrechtlich vorgegebenes Prüfungsverfahren zur Zulässigkeit der Verbringung in den Drittstaat durchzuführen.

Diese auch unionsrechtlich vorgegebene (Art. 46 AsylverfahrensRL; Art. 67 E-AsylverfahrensVO) gerichtliche Kontrolle der Verbringungsentscheidung bei menschenrechtssensiblen Vorfragen kann durch die Einstufungsentscheidung durch Kommission oder Nationalstaat – ähnlich wie nach dem Modell des Art. 16a Abs. 2 Satz 2 GG – in Prüfprogramm und -dichte auf eine Vertretbarkeitskontrolle unter Beweislastumkehr moderat reduziert, national nach Art. 19 Abs. 4 GG aber nicht – wie offenbar nach britischem Vorbild – weitgehend ausgeschlossen werden. Eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Asylentscheidung selbst muss auch dann, wenn diese durch den Drittstaat erfolgt, einer effektiven gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

Durch Abkommen mit dem Drittstaat können u.a. deren Übernahmebereitschaft und die Übernahmekonditionen .geregelt werden; bei einem Schutzbegehren mit Territorialberührung gestatten weder diese Abkommen noch das künftige Asylrecht eine verfahrens- und rechtsschutzfreie Überstellung an diesen Drittstaat. Die zu beachtenden Regelwerke und das europäische Primärrecht enthalten auch verfahrensrechtliche Schutzdimensionen. Eine systematische Nichtbeachtung der Entscheidungen supranationaler Gerichte bilden für den verfassten Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland allenfalls eine politisch nutzbare, aber keine normativ wählbare Option.

 

4. Ausgewählte Rechtsfragen zum Rechtsrahmen

Das internationale Recht (insb. GFK und EMRK) enthält keine exklusiv allein auf die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten in Transit- und Drittstaaten gerichteten Regelwerke oder Regelungskomplexe.

4.1 Der Globale Pakt für Flüchtlinge der UN enthält gewisse Vorgaben für eine faire Verantwortungsteilung bei einem supranationalen Zusammenwirken. Sie können aber durch eine Aufgabenverlagerung nach dem Ruandamodell von der Bundesrepublik Deutschland ohne wirksame supranationale „Sanktion“ übergangen/verletzt werden.

4.2. Die vom Supreme Court des Vereinigten Königreichs in seiner Ruandaentscheidung[10] nur angetippte Frage, ob die Kernelemente des materiellen und formellen Flüchtlingsrechts inzwischen zu von vertraglichen Bindungen unabhängigen „ius cogens“-Regelungen des allgemeinen Völkerrechts erstarkt sind, dürfte nach der Rechtsentwicklung der letzten Jahre ungeachtet einer kontrafaktischen Entwicklung im Kern wohl zu bejahen sein. Eine abschließende völkerrechtliche Prüfung übersteigt meine völkerrechtliche Kompetenz.

4.3 Eine fehlende (völkerrechtliche) Bindung an GFK, EMRK, Unionsrecht oder nationales Verfassungsrecht bedeutet keine Befreiung des sicheren Drittstaates von rechtlichen Bindungen. Eine extraterritoriale (förmliche) Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes oder die EMRK scheidet nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung der supranationalen Gerichte aus, wenn die konventionsgebundenen Überstellerstaaten jenseits „konditionierter“ vertraglicher Zahlungspflichten keine Hoheits- oder Steuerungsgewalt ausüben; Monitoring der Wirkung und Kontrolle der tatsächlichen Umsetzung der vertraglichen Vereinbarungen reicht ebenfalls grundsätzlich nicht zur Begründung exterritorialer Bindungen; bei quantitativ wie qualitativ neuartigen Formen transnationalen Zusammenwirkens mit menschenrechtlich erheblichen Eingriffen mögen indes die rechtlichen Prüfungsmaßstäbe problemadäquat fortzuentwickeln sein. Völkervertragsrechtlich muss aber eine auch rechtliche Bindung des sicheren Drittstaates an die Kernstandards der GFK und der EMRK jedenfalls insoweit gesichert sein, als sie in den Art. 57, 59 E-AsylverfahrensVO als Anwendungsvoraussetzung für das Konzept des sicheren Drittstaates umschrieben sind.

Grundvoraussetzung für die im Drittstaat tatsächlich zu achtenden Garantien sind die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz während des Verfahrens, eine Chance zur Asylantragstellung, angemessene Verfahrensrechte, eine unvoreingenommene Beurteilung des Schutzbegehrens und eine unbedingte Beachtung des Verbots eines direkten oder indirekten Refoulements. Der Verweis auf die allgemeinen medizinischen und sonstigen Standards der Existenzsicherung im Drittstaat setzt voraus, dass diese ihrerseits mit Art. 3 EMRK vereinbar sind. Anforderungen haben jedenfalls dann den vom EGMR und dem EuGH in der Rechtsprechung zu Abschiebungen innerhalb der Europäischen Union entwickelten Grundsätzen zu entsprechen, wenn Transit- oder Drittstaaten aktiv in den nationalen Prüfprozess eingebunden werden oder diesen gar ersetzen sollen.

4.4 Nach nicht unbestrittener, aber vorzugswürdiger Auffassung umfasst „Asyl“ i.S.d. Art. 16a GG auch den GFK-Flüchtlingsschutz. Solange völker- oder unionsrechtlich die Auslagerung von Asylverfahren in sichere Drittstaaten (sicheres Drittstaatskonzept oder Exterritorialisierung des bundesdeutschen Asylverfahrens) nicht bindend vorgegeben ist, ist dann auch das Grundgesetz zu beachten.

Art. 16a Abs. 2 GG schließt den Asylanspruch nur bei Einreise „aus“, nicht „über“ einen Drittstaat aus, bei dem die Anwendung der GFK und der EMRK sichergestellt sind. Auch Art. 16a Abs. 5 GG erlaubt nur völkerrechtliche Verträge der EU oder von (nach vorzugswürdiger Ansicht: auch einzelner) Mitgliedstaaten zu Zuständigkeitsregelungen u.a. dann, wenn (insgesamt) die Beachtung von EMRK und GFK (vertraglich und tatsächlich) sichergestellt ist.

Dies begrenzt nach nationalem Verfassungsrecht die Ausnutzung etwaiger Spielräume, welche die künftige AsylverfahresVO den Mitgliedstaaten zur Standardunterschreitung eröffnete. In Verbindung mit der Bindung der Bundesrepublik Deutschland selbst an GFK und EMRK ergibt dies einen grundgesetzlichen Mindeststandard, der (direkt oder entsprechend) für jede Form der Externalisierung der Prüfung des Schutzbegehrens an einen Drittstaat greift – und damit auch für eine hieran anknüpfende Ablehnung eines Schutzgesuchs als unzulässig unter Überstellung in einen sicheren Drittstaat gilt.[11]

Die anstehende Vollharmonisierung des Flüchtlingsrechts bei Verträgen mit Drittstaaten durch die EU selbst und die Mitgliedstaaten gebietet auch dann keine Auslagerung unter Abschluss entsprechender Verträge, wenn die EU selbst Drittstaaten als sichere Herkunftsstaaten bestimmt hat. Auch dann „kann“ das Konzept des sicheren Herkunftslandes zur Anwendung kommen (Art. 59 Abs. 4 E-AsylverfahrensVO), muss dies aber nicht. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts überlagert mithin nicht im nationalen Recht bestehende Anwendungsvoraussetzungen für das Konzept des sicheren Drittstaates. Davon zu trennen ist die (umstrittene) Frage, ob de lege lata eine Beschränkung der Sicherheit auf bestimmte Regionen oder Personenkreise konventionsrechtlich möglich ist.

Ob auch diese Bindungen an die materiellen Vorgaben von EGMR und GFK durch Änderung des Grundgesetzes gestrichen oder wegen ihrer zentralen menschenrechtlichen Bedeutung die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG dem entgegen steht, lässt sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a GG nicht (klar) entnehmen, scheiden jedenfalls nicht offenkundig aus und bedürfte gesonderter Prüfung.

4.5 Weder in der GFK[12] noch im Unionsprimärrecht ausdrücklich verankert ist das sekundärrechtliche „Verbindungskriterium“ (Art. 38 Abs. 1 lit. 2 RL 2013/32/EU; Art. 59 Abs. 5 lit. b) E-AsylverfahrensVO),[13] nach dem es „vernünftig“ erscheinen muss, dass sich ein Schutzsuchender in einen sicheren Drittstaat begibt. Es sichert aber sekundärrechtlich den menschenrechtlichen, u.a. aus Art. 8 EMRK folgenden Grundsatz ab, dass Menschen zwar keine freie Wahl ihrer Aufenthaltsortes haben, aber nicht gegen ihren Willen dauerhaft in eine ihnen fremde Umwelt außerhalb des Heimatstaats verbracht werden sollen. Es geht über einen bloßen Gebietskontakt (Transit) hinaus und verlangt einen qualitativ wie zeitlich mehr als unerheblichen Aufenthalt, ohne schon zum ersten Asylstaat erstarkt sein zu müssen.

Auch wenn es kein Menschenrecht auf Wahl des Zufluchtsstaates gibt und eine „Entwurzelung“ mit jeder grenzüberschreitenden Flucht verbunden ist, folgt aus der auch völkerrechtlich geschützten personalen Würde des Einzelnen ein Mindestmaß auf Beachtung seiner Belange bei der Schutzprüfung- und -gewährung, mit dem der Verweis auf beliebige Schutzstaaten unvereinbar ist. Dieses „Verbindungselement“ folgt jedenfalls aus der GFK und dem EU-Primärrecht (Art. 78, 80 AEUV). Beide Regelwerke betonen den Gedanken staatenübergreifender Solidarität und der Verantwortungs(ver)teilung bei der Bewältigung der Folge grenzüberschreitender Fluchtmigration. Auch die New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten v. 19.9.2016 betont das Prinzip der internationalen Zusammenarbeit, der Lastenteilung und der geteilten Verantwortung. Eine vertragliche Übertragung der Flüchtlingsverantwortung gegen Entgelt und andere Vorteil auf sichere Drittstaaten ohne ein substantielles Verbindungselement ist – auch bei Wahrung der Schutzgrundsätze, insb. des Refoulementverbots – eine „Kommerzialisierung“ von Verantwortung zu deren Abwälzung und hat mit geteilter Verantwortung nichts mehr zu tun. Nicht zu vertiefen ist, ob aus dem Solidaritätsgrundsatz auch quantitative Grenzen für den Verweis auf sichere Drittstaaten folgen. Art. 3 Abs. 3 VO (EU) 604/2013 anerkennt zwar dieses Recht auch im Kontext der innereuropäischen Zuständigkeitsverteilung, nicht aber als generelles Verantwortungsverlagerungsinstrument.

4.6 Für vulnerable Personen gelten teils weitergehende Anforderungen, die eine Verlagerung hindern können oder an zusätzliche Voraussetzungen knüpfen. Sekundärrechtlich macht Art. 59 Abs. 6 E-AsylverfahrenVO die Anwendung des Drittstaatskonzepts auf unbegleitete Minderjährige von der Beachtung von deren Wohl und von besonderen Schutzzusagen des Drittstaates abhängig. Auch wenn kein allgemeiner flüchtlingsrechtlicher Familienzusammenführungs- oder -nachzugsanspruch besteht, gebieten Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC zumindest, bestehende Kernfamilien nicht auseinanderzureißen und auch dann von einer Durchführung des Asylverfahrens im Drittstaat abzusehen, wenn die Fristen für das Familienasyl nicht gewahrt sind (§ 26 AsylG). Art. 22 KSK verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, bei Flüchtlingskindern angemessenen Schutz und humanitäre Rechte sicherzustellen. Art. 11 BSK formuliert die Pflicht von Menschen mit Behinderungen in Gefahrensituationen und humanitären Notlagen vager, steht aber eine Überführung dann entgegen, wenn mangels behinderungsspezifischer Bedingungen im sicheren Drittstaat mit Art. 3 EMRK inkompatible Lebensbedingungen drohen.

Leipzig, den 10. Juni 2024

 

Fußnoten

*    Verschriftlichte, um erste Nachweise ergänzte Fassung der mündliche Stellungnahme zu der Anhörung des Bundesministeriums des Innern am 13.5.2024 zur „Auslagerung von Asylverfahren“ (Stand: 10.6.2024).

[1]    Dazu bereits SVR, Jahresgutachten 2017, 57 ff.; Thym, Mindestanforderungen des EU-Primärrechts und des Flüchtlingsvölkerrechts an sekundärrechtliche Regelungen, die vorsehen, Asylanträge mit Blick auf Schutz- und Unterkunftsmöglichkeiten in dritten Staaten (Transitstaaten, sonstige Staaten) oder einzelne Teilgebiete abzulehnen, Stellungnahme für das BMI, 19.1.2017.

[2]    Zu diskutierten Modellen s.a. Angenendt u.a., Die Externalisierung des europäischen Flüchtlingsschutzes, SWP-Aktuell Nr. 12 März 2024.

[3]    Dazu Allenberg/Suerhoff, Migration im Jahr 2023, in: Berlit u.a. (Hrsg.), Jahrbuch des Migrationsrechts 2023, Baden-Baden 2024, 251 (262 ff.) (i.E.); ProAsyl, UK-Ruanda-Deal: Rechtswidrig, menschenverachtend und dysfunktional, 22.4.2024.

[4]    Allenberg/Suerhoff (Fn. 4), 251 (260 ff.) (i.E.); s.a. Amnesty International, Stellungnahme „Das ‚Memorandum of Understanding‘ zwischen Italien und Albanien“ v. 19.1.2024 (EUR 30/7587/2024).

[5]    Dazu Kluth, Das humanitäre Visum als Instrument der sicheren Fluchtmigration, ZAR 2017, 105 ff.

[6]    Die am 14.5.2024 auch vom Rat angenommenen Regelwerke des Migrations- und Asylpakets sind bislang noch nicht in einer „authentischen“ Fassung im Amtsblatt veröffentlicht.

[7]    E-AsylverfahrensVO i.d.F. v. 26.4.2024 – PE-CONS 16/24.

[8]    EGMR, U. v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09 (M.S.S. v. Belgien und Griechenland).

[9]    EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. (N.S. u.a.).

[10] UK Supreme Court, Judgement v. 15.11.2023 – [2023] UKSC 42 [AAA u.a. v. Secretary of State for the Home Department).

[11] S. bereits – zu Art. 16a Abs. 2 GG – BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 u.a., Rn. 157 ff.

[12] S.a. Thym (Fn. 1), 30 f.

[13] S.a. Bundestag, Wiss. Dienste, Fragen zum Konzept der sicheren Drittstaaten im deutschen und europäischen Asylrecht, WD 3-300 095/23,