Daniel Thym, Professor, Universität Konstanz
Der Text basiert auf einer fünfseitigen Stellungnahme, die ich nach der ersten Anhörungsrunde der Bundesregierung über sichere Drittstaatsmodelle im Februar 2024 verfasste. Er ist im Wesentlichen unverändert. Die strenge Vorgabe zum Umfang erklärt zugleich, warum der Text auf Nachweise in Form von Fußnoten weitgehend verzichtet. Allerdings können diese an anderer Stelle aufgefunden werden. Die Stellungnahme rekurriert nämlich auf die zentralen Thesen zweier Gutachten meinerseits: eine Expertise aus dem Jahr 2024 für die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, die online hier verfügbar ist, sowie ein Gutachten, das ich 2017 für das Bundesministerium des Innern in Absprache mit dem Kanzleramt erstellte, um die EU-Asylreform vorzubereiten; dieses findet sich hier.
Diese Stellungnahme behandelt fünf zentrale Themen: (1) Rechtmäßigkeit sicherer Drittstaatsklauseln, (2) unterschiedliche Varianten in der Praxis, (3) Defizite der EU-Asylreform, (4) praxistaugliche Ausgestaltung der Vorverfahren und (4) Sicherheitsniveau im Drittstaat.
1. Rechtmäßigkeit sicherer Drittstaatsklauseln
Sichere Drittstaatsmodelle sind mit dem Grundgesetz, der Genfer Flüchtlingskonvention und den Menschenrechten vereinbar. Gemeinsam ist diesen Gewährleistungen, dass sie einen wirksamen Schutz vor Verfolgung und schweren Menschenrechtsverletzungen verlangen, nicht jedoch vorgeben, welcher Staat diesen gewährleistet. In den Worten von UNHCR: „Flüchtlinge haben keinen uneingeschränkten Anspruch darauf, sich den ‚Asylstaat‘ auszusuchen.“[1]
Dieses Ergebnis bekräftigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des britischen Supreme Court. Es geht nicht um die Grundsatzfrage, „ob“ die Staaten überhaupt Asylverfahren auslagern dürfen, sondern um das „Wie“ der Ausgestaltung. Eine Umsetzung sicherer Drittstaatsmodelle setzt voraus, dass die Politik die rechtlichen Bedingungen erfüllt, die sich aus der Rechtsprechung und den EU-Gesetzen ergeben. Im Fall der EU-Staaten sind diese höher als in Australien oder den USA, weil die EGMR-Urteile und EU-Asylrichtlinien ein höheres Schutzniveau gewährleisten. EU-Gesetzgebung kann man ändern, falls der politische Wille vorhanden ist.
2. Unterschiedliche Varianten in der Praxis
In „sichere Drittstaaten“ (safe third countries) werden Personen überstellt, die bereits ein EU-Land erreichten. Ein Asylverfahren realisiert der Drittstaat nach seinen Standards, gegebenenfalls unterstützt von internationalen Organisationen, europäischen Beamten oder EU-Agenturen. Dauerhaften Schutz gewährt ebenfalls der Drittstaat; überstellte Personen dürfen nicht legal in die EU einreisen. Allerdings sollten die EU-Staaten im großen Stil andere Schutzbedürftige aufnehmen, um den Vorwurf einer Abschottung vorzubeugen. Derartige legale Wege richten sich typischerweise nicht an die überstellten Personen, um keine Anreize zu bieten, irregulär in den Schengen-Raum einzureisen. In der Praxis kann ein solches Vorgehen bewirken, dass Schutz nicht mehr vorrangig junge und allein reisende Männer erhalten, die derzeit besonders häufig irregulär auf eigene Faust kommen. Prominenteste Beispiele sicherer Drittstaatsmodelle, wenn auch mit begrenzten legalen Einreiseoptionen, sind der britische „Ruanda-Plan“ und die australische „Pazifische Lösung“.
Dagegen meinen Asylverfahren im Ausland (external processing) die Durchführung regulärer deutscher bzw. europäischer Asylverfahren in einem Drittstaat – bevor oder nachdem eine Person den Schengen-Raum erreicht. Bei Schutzbedarf erfolgt meistens eine legale Einreise in das zuständige EU-Land. Ein Beispiel ist das italienische „Albanien-Modell“.
Drittstaatsmodelle beruhen auf der Annahme, dass es ausreicht, eine begrenzte Personenzahl zu überstellen, woraufhin die Ankunftszahlen automatisch zurückgehen. Australien erreichte dies, indem es binnen zwei Jahrzehnten 4100 Personen überstellte – nahezu alle Asylbewerber. Für europäische Länder entscheidend ist die Frage, ob eine Abschreckungswirkung auch eintritt, wenn die Überstellungsrate deutlich unter 100 % liegt. Im Fall der EU-Türkei-Vereinbarung hatte der Antragsrückgang viele Ursachen (nur sehr wenige Syrer wurden tatsächlich überstellt). Entsprechend dürfte es notwendig sein, auch zukünftig im Windschatten sichtbarer Drittstaatsmodelle zahlreiche Reformen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene anzugehen.
3. Defizite der EU-Asylreform
Nachdem die Ministerpräsidentenkonferenz den Prüfauftrag erteilte, in dessen Umsetzung diese schriftliche Stellungnahme erfolgt, wurde auf EU-Ebene eine Reform der Asylrichtlinien beschlossen, die die Anforderungen an das Sicherheitsniveau im Drittstaat absenkte. Um das Sicherheitsniveau im Drittstaat geht es im letzten Abschnitt. Zugleich bestand unter anderem die deutsche Bundesregierung darauf, am „Verbindungskriterium“ festzuhalten. In der finalen Fassung wurden zudem die Anforderungen an den Rechtsschutz erhöht (hierzu im nächsten Abschnitt). Aufgrund dieser doppelten Vorgabe auf EU-Ebene lässt sich ein sicheres Drittstaatsmodell derzeit allenfalls umsetzen, wenn Asylbewerber sich bereits länger im kooperationsbereiten Drittstaat aufhielten. In der Praxis kämen dafür allenfalls Serbien, Marokko und die Türkei in Betracht.
Hinzu kommt, dass die EU-Asylreform erst in zwei Jahren in Kraft treten wird. Bis dahin gelten die höheren Standards der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU, was eine Umsetzung nochmals erschwert. Zwar ist es prinzipiell möglich, einzelne EU-Vorgaben aufgrund einer Notfallklausel vorübergehend außer Kraft zu setzen. Allerdings ist dies mit Prozessrisiken behaftet. Eine praxistaugliche Umsetzung setzt voraus, den EU-Asylkompromiss punktuell nachzubessern. Dies könnte schon bald auf der politischen Agenda stehen, weil nach der jüngst beschlossenen Reform die EU-Kommission in einem Jahr einen Bericht vorlegen soll, ob „gezielte Anpassungen“ der Drittstaatsklausel angezeigt sind. Ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren könnte theoretisch schnell gehen. Dieses beträfe wohl vor allem das Verbindungskriterium und den Rechtsschutz.
Die Endfassung der künftigen Asylverfahrensverordnung ändert das „Verbindungskriterium“ überhaupt nicht. Das Vorhaben, einen Transit ausreichen zu lassen, wurde in der Endfassung gestrichen. Damit gilt ein EuGH-Urteil fort, wonach jemand nicht einmal in einen Drittstaat überstellt werden darf, den er nur kurzfristig im Wege des Transits durchquerte (es steht nicht abschließend fest, wo die Grenze zwischen Transit und längerem Aufenthalt verläuft).
Das italienische „Albanien-Modell“ nutzt eine juristische Hintertüre, weil die EU-Asylrichtlinien erst eingreifen, sobald jemand das EU-Gebiet erreicht. Auf der Hohen See gelten „nur“ die Menschenrechte, die das Verbindungskriterium nicht vorschreiben (es könnte bei einer Nachbesserung der EU-Asylreform aus diesem Grund ersatzlos gestrichen werden). Daher gilt das „Albanien-Modell“ nur für Personen, die auf Hoher See gerettet werden – nicht jedoch für Asylbewerber, die Italien bereits erreichten. Das liegt neben dem Verbindungskriterium daran, dass die EU-Asylrichtlinien es nicht gestatten, eigene Asylverfahren in Drittstaaten durchzuführen, nachdem jemand bereits die EU erreichte (external processing). Es ist allerdings zulässig, dass Italien das EU-Recht freiwillig auf Personen in den albanischen Zentren anwendet, die der Richtlinie eigentlich nicht unterfallen. Bei einer erneuten EU-Asylreform könnte diese Option für alle Staaten eröffnet werden.
4. Praxistaugliche Ausgestaltung der Vorverfahren
In der Debatte viel zu wenig beachtet werden die rechtlichen und praktischen Anforderungen an das Vorverfahren, das die EU-Mitgliedstaaten zwangsweise durchführen müssen, bevor sie einen Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat überstellen. Die aktuelle und künftige EU-Gesetzgebung erlaubt, anders als der deutsche Asylkompromiss von 1992, keine Zurückweisung an den EU-Außengrenzen. Hier dahinstehen mag die Frage, ob Deutschland derzeit Asylbewerber in andere EU-Mitgliedstaaten zurückweisen kann, wenn diese auf dem Landweg irregulär einreisen (nach meiner festen Überzeugung wäre das meistens rechtswidrig). Darum geht es bei der aktuellen Debatte jedoch nicht. Die EU-Gesetze und die laufende deutsche Debatte meinen mit „sicheren Drittstaaten“ nur Länder, die nicht zugleich EU-Mitglieder sind und auch nicht, wie Norwegen und die Schweiz, aufgrund völkerrechtlicher Verträge an den EU-Regeln teilhaben.
Konkret müssten zwei Vorgaben erfüllt sein. Im ersten Schritt wären Drittstaaten auf nationaler bzw. europäischer Ebene als generell sicher einzustufen (eine EU-Liste lässt erst die Verfahrensverordnung ab 2026 zu). Das kann vergleichsweise schnell gehen, soweit ein Drittstaat die notwendigen Voraussetzungen erfüllt (hierzu im Folgenden). Für die Umsetzung macht es keinen Unterschied, ob die Einstufung auf nationaler oder europäischer Ebene erfolgt. Derzeit gilt in Deutschland kein einziges Land als sicherer Drittstaat, das nicht zugleich an den EU-internen Dublin-Regelungen teilnimmt. Ab 2026 wird es ausreichen, dass einzelne Landesteile sicher sind.
In einem zweiten Schritt muss in jedem Einzelfall eine administrative Vorprüfung auf europäischem Boden stattfinden. Erst nach dieser darf eine Überstellung tatsächlich stattfinden. In rechtlicher Hinsicht handelt es sich um eine sogenannte „Zulässigkeitsprüfung“, die unter anderem verifiziert, ob der Drittstaat in jedem Einzelfall für eine Person sicher ist, das Verbindungskriterium beachtet wurde und der Drittstaat eine Überstellung tatsächlich akzeptiert. Diese Vorprüfung mündet in einer Unzulässigkeitsentscheidung, gegen die sodann Rechtsschutz möglich ist.
Das Europäische Parlament bestand darauf, dass die Überstellung außerhalb des Grenzverfahrens, das in Deutschland nur an Flug- und Seehäfen stattfindet, erst erfolgen darf, nachdem ein Gericht eine Hauptsacheentscheidung fällte. Damit scheiterte das Reformvorhaben des Rates, einen einstweiligen Rechtsschutz ausreichen zu lassen. Diese technische Änderung hat dramatische Auswirkungen, weil Hauptsacheverfahren im statistischen Durchschnitt ungefähr zwei Jahre dauern, während über den einstweiligen Rechtsschutz binnen zwei Monaten entschieden wird. Durch eine Priorisierung könnten ausgewählte Verfahren beschleunigt werden. Eine schnelle Umsetzung im größeren Stil verlangte jedoch, dass auf EU-Ebene der einstweilige Rechtsschutz für ausreichend erklärt wird. Eine gezielte Anpassung der Drittstaatsklausel auf EU-Ebene könnte dies nach der Europawahl ändern. Außerdem müssten das BAMF und die Verwaltungsgerichte in die Lage versetzt werden, zügig und zuverlässig zu entscheiden. Das gilt auch für andere Mitgliedstaaten.
5. Sicherheitsniveau im Drittstaat
Herzstück des internationalen Flüchtlingsrechts ist das Refoulementverbot, wonach jemand nicht in ein Land überstellt werden darf, wo Verfolgung oder schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen. Es ist völlig klar, dass sichere Drittstaaten einen vollumfänglichen Refoulementschutz garantieren müssen, auch vor einer „Kettenrückführung“ in andere Länder. Das notwendige Schutzniveau orientiert sich an der weiten europäischen Lesart des Refoulementverbots. So müsste ein sicherer Drittstaat zum Beispiel die geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen anerkennen oder einen Schutz auch für Lesben und Schwule realisieren. Ansonsten dürfen Personen, die diese Schutzgründe plausibel gelten machen, nicht überstellt werden. In der Praxis bietet es sich daher an, abhängig von der Situation im Drittstaat bestimmte Personengruppen von der Überstellung generell auszunehmen. Das verringert das Risiko von Rechtsverstößen und schont die Ressourcen des BAMF und der Gerichte, die für schnelle Zulässigkeitsprüfungen unerlässlich sind.
Maßgeblich für die Sicherheitsprüfung ist eine belastbare Verwaltungspraxis, nicht die bloße Rechtslage oder die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge. Aufgrund internationaler Lageberichte ist zu beurteilen, ob das Asylsystem im Drittstaat hinreichend zuverlässig ist oder nicht. Eben dies war der Kritikpunkt des britischen Supreme Court, als dieser den britischen „Ruanda-Plan“ im November 2023 vorläufig stoppte. Die Regierung hatte das Gericht nicht davon überzeugt, dass die ruandischen Asylverfahren hinreichend sicher sind. Zugleich sagte der Supreme Court, dass diese Defizite künftig behoben werden könnten. Es wird sich zeigen, ob der geänderte Vertrag, den Großbritannien mit Ruanda schloss, den höchstrichterlichen Bedenken gerecht wird.
Ein zentraler Inhalt der GEAS-Reform ist eine Neuformulierung der Anforderungen an die Lebensbedingungen im Drittstaat, die auch auf Initiative der ehemaligen Großen Koalition zustande kam und die die erwähnte Expertise meinerseits vorbereitete. Den juristischen Hintergrund bildet die abgestufte Gewährleistung der sozioökonomischen Statusrechte in der GFK, die die Vertragsstaaten nicht automatisch alle zu gewähren verpflichtet sind. Auf dieser Grundlage nähert die künftige Verfahrensverordnung, die ab Sommer 2026 gelten wird, das Schutzniveau an die völkerrechtlichen Mindeststandards an. Zwingend bereitstellen muss der Drittstaat vor allem Unterkunft, Ernährung, Kleidung, Gesundheit und Bildung sowie, nach einem Kompromiss in letzter Minute, einen vollen Arbeitsmarktzugang (dies könnte künftig evtl. flexibilisiert werden). Das Schutzniveau richtet sich nach internationalen Standards, die deutlich niedriger ausfallen können als in der Bundesrepublik.
Viele Länder des globalen Südens ratifizierten zwar die Genfer Flüchtlingskonvention, verfügen jedoch über keine belastbaren Verwaltungsstrukturen, um den Schutzbedarf zuverlässig zu prüfen. Auch die Existenz einer Statusdetermination durch UNHCR ist keine Gewähr zuverlässiger Asylentscheidungen. UNHCR leistet unter schwierigen Rahmenbedingungen wertvolle Arbeit, bietet häufig jedoch nicht die Sicherheit, die die EGMR-Urteile verlangt. Die Behörden im Drittstaat müssten nachhaltig unterstützt werden, das notwendige Sicherheitsniveau in der Praxis zu gewährleisten. Es hinge von den Rahmenbedingungen vor Ort und dem Ergebnis der diplomatischen Verhandlungen ab, welche Akteure die staatlichen Stellen des Drittstaats dabei unterstützen, zuverlässige Asylverfahren durchzuführen und angemessene Lebensbedingungen zu realisieren. In Betracht kommen internationale Organisationen, private Firmen (vor allem für Unterbringung und Versorgung), die EU-Asylagentur und Frontex sowie nationale Beamte der EU-Mitgliedstaaten. Diese Unterstützungsleistungen sind größtenteils schon nach geltendem Recht möglich, soweit ein politischer Wille besteht.
Fußnote
[1] UNHCR, Legal Considerations Regarding Access to Protection, April 2018, Rn. 2 (eigene Übersetzung).