Umstrittene Externalisierung: Was folgt aus der Notwendigkeit zu Kooperation mit Drittstaaten und der Duldung tödlicher Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen?

Lena Laube, Akademische Rätin, Universität Bonn

 

Der Beitrag widmet sich den Anfechtungen der Externalisierung von Grenzkontrollen, die an Gewicht gewinnen, da sich der hohe Preis dieser politischen Strategie zeigt, den die EU für die Aufrechterhaltung des Scheins von Kontrolle durch die Vorverlagerung von Kontrolle zu zahlen bereit ist. Dieser Beitrag konzentriert sich auf zwei Dimensionen der nicht-intendierten Konsequenzen, die sich aus der Fortsetzung der umstrittenen Externalisierungsstrategie ergeben: Die Folgen der Abhängigkeit der EU von Abkommen mit Drittstaaten sowie des Duldens von Rechtsbrüchen an den Grenzen durch die EU. Es wird gezeigt, wie Drittstaaten Einfluss auf die europäische Grenzpolitik gewinnen, dass sich externalisierte Grenzgewalt nach innen wendet und Vertrauen in den Rechtsstaat verloren geht.

 

Einleitung: Wenn Externalisierung an ihre Grenzen stößt

Die Externalisierung von Grenzkontrollen ist ein zentrales Merkmal des Wandels der Staatsgrenzen in Europa, Ozeanien und Nordamerika seit den 1990er Jahren. Die Verlagerung der Grenzen weg von ihrer traditionellen Lage an den territorialen Rändern des Landes hat Zugangskontrollen in einer von Mobilität geprägten Welt einst völlig neu erfunden. Diese politische Strategie dient der selektiven Regulierung des territorialen Zugangs von Nicht-Staatsbürger*innen zu einem Land oder einer Region. [1]  In der Europäischen Union wurde Externalisierung in Form von Instrumenten wie der (Un-)Möglichkeit, ein Visum in den Botschaften zu erhalten[2], der ausgelagerten Bearbeitung von Asylanträgen[3], extraterritorialer Überwachung und Patrouillen[4] und vielen weiteren Maßnahmen entfaltet.[5]

Gerade die Visapolitik, also die Verlagerung der Zulassungskontrolle in die entsprechenden Botschaften und Konsulate in den Herkunftsländern, hat sich als eines der wirksamsten Instrumente der Externalisierung erwiesen, da ab diesem Zeitpunkt jegliche grenzüberschreitende Mobilität aus Sicht des Ziellandes als entweder „legal“ oder „illegal“ eingestuft werden kann[6]. Noch bevor eine Reise beginnt, kann durch einen Visumszwang diese vom Zielland als „unerwünscht“ markiert werden. Damit entfaltet die Grenze ihre Filter- oder Sortierfunktion bereits in den Herkunftsländern[7]. Zudem versuchen Zielländer durch Outsourcing andere Staaten in ihre Kontrolllogik einzubeziehen, um die Kosten der Migrationskontrolle zu externalisieren und die Rolle des “Gatekeepers” auf andere Ländern in ihrer weiteren Umgebung zu übertragen. Diese Strategie ist Teil eines allgemeinen Ansatzes vieler wohlhabender Länder des Globalen Nordens, die ungleich verteilten Gewinne aus Jahrhunderten der Industrialisierung, Modernisierung und des Kolonialismus zu verteidigen[8]. Externalisierung ist neben der Digitalisierung als wesentlicher Teil einer „intelligenten Grenze“[9] identifiziert und kritisiert worden, als während den 1990er und 2000er Jahren noch die Erwartung bestand, dass mit geringfügigem Aufwand jenseits des eigenen Territoriums eine Immobilisierung von Personen herbeigeführt werden kann. Doch sowohl Flucht- als auch Migrationsbewegungen, die sich nicht nur auf eine Weltregion beschränken, haben sich seither weiter erhöht.[10] Die Flucht von Hundertausenden Syrer*innen und Afghan*innen in die EU währen des „langen Sommers der Migration 2015“[11] ist hier nur das sichtbarste Beispiel dafür, dass die „intelligente“ Externalisierung von Kontrollen an ihre praktischen Grenzen stößt.

Vor diesem Hintergrund ist von einer umstrittenen Externalisierung („Contested externalization“[12]) auszugehen. Dies bedeutet einerseits, dass sich trotz aller restriktiven Maßnahmen Menschen in Bewegung setzen oder fliehen müssen[13] und dabei sehr unsichere Routen wählen müssen.[14] Andererseits wird Externalisierung angefochten, weil sich der hohe Preis zeigte, den die EU für die Aufrechterhaltung des Scheins von Kontrolle durch die Vorverlagerung von Kontrolle zu zahlen bereit ist. Dieser Beitrag konzentriert sich auf zwei Dimensionen der Konsequenzen, die sich aus der Fortsetzung der Externalisierungsstrategie ergeben: Erstens führt sie in eine Abhängigkeit der EU von Abkommen mit Drittstaaten und damit zu einer veränderten Migrationsdiplomatie, in der z.B. autoritäre Staaten ihre Kooperationsbereitschaft an weitgehende Bedingungen knüpfen können. Zweitens führt das Dulden von Rechtsbrüchen an den Grenzen durch die EU zu vielen Grenztoten[15] und einer vehementen rechtlichen, zivilgesellschaftlichen und außenpolitischen Kritik am Handeln europäischer Regierungen.

 

Keine Externalisierung ohne Kooperation von Drittstaaten

Die Externalisierung von Grenzkontrollen und –verfahren wird im öffentlichen Diskurs oft als eine unilaterale Strategie europäischer Staaten aufgefasst, die beschlossen und umgesetzt werden kann. Dies ist eine trügerische und eurozentrische Annahme, die die gegenwärtige Politik aufrechtzuerhalten sucht.[16] Auch wenn der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen vorsichtshalber mit Bezug auf seine Verhandlungen vorausschickt, „wir haben dicke Bretter zu bohren“[17]. Denn es gibt keine Externalisierung ohne die Kooperationsbereitschaft von anderen Staaten, weil sie eine inhärent relationale Politik ist. Angefangen bei der Einrichtung von Konsulaten bis hin zur Rückübernahme von Geflüchteten durch Drittstaaten, auf der ganz maßgeblich die neue GEAS-Reform fußt, findet keine Verlagerung ohne die Zustimmung anderer souveräner Staaten statt. Um diese zu erreichen, müssen Angebote und Anreize geschaffen werden, um Kooperation und Compliance zu erreichen und langfristig zu sichern.[18] Ein Forschungsfeld ist entstanden, das diese Aushandlungen in den Blick nimmt und die entstandene Migrationsdiplomatie analysiert[19]. Diese ist Teil einer jeden Außenpolitik geworden: die der EU-Staaten wie auch derjenigen Staaten, mit denen kooperiert werden soll, da sie als Transit- oder Herkunftsländer von illegalisierten Migrant*innen angesehen werden.[20] Da die Verhandlungen über Kooperationen einen offene Ausgang haben, verhandeln die Länder, auf die Kontrollaufgaben übertragen werden sollen, sehr geschickt, bauen Druck auf oder drohen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Am Beispiel der internationalen Visapolitik lässt sich beobachten, wie diese Migrationsdiplomatie der Drittstaaten zu unintendierten Nebeneffekten für die EU geführt hat:[21] Aufgrund der Restriktionen und Vereinheitlichung der Reisemöglichkeiten für Drittstaatsangehörige durch die Einführung der Schengenvisa ist das visafreie Reisen in die Europäischen Union zu einem seltenen und wertvollen politischen Gut geworden. Sowohl für Drittstaatsangehörige als auch deren Regierungen wurde die Visaliberalisierung zu einem wichtigen Thema in den bilateralen Verhandlungen mit der EU über die Zusammenarbeit bei der Migrationssteuerung und wird von den EU-Institutionen häufig als Anreiz genutzt. In Fallstudien zu Moldawien, Marokko und der Türkei zeigt sich, wie alle beteiligten Regierungen Fragen der Mobilitätsregulierung als außenpolitisches Instrument nutzen, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg in Bezug auf die Visaliberalisierung. Diese drei Drittstaaten der EU haben 15 Jahre und mehr über Visaliberalisierungen verhandelt, die Gegenleistung sollte die Rücknahme ausreisepflichtiger Personen sein, die entweder Bürger*innen ihres Landes oder aus einem Land in derselben Region sind. Nur Moldawien konnte die angestrebten Visaerleichterungen realisieren und war nach vielen Jahren der Europäischen Nachbarschaftspolitik zu Rücknahmeabkommen bereit. Der Türkei wurden die Erleichterungen immer wieder nur in Aussicht gestellt und haben das Land dazu bewogen, den Druck auf die EU und konkret Griechenland zu erhöhen, indem mit Grenzöffnungen für syrische Geflüchtete gedroht wurde[22]. Der umfängliche sogenannte „EU-Türkei-Deal“ von 2016 ist ein Beispiel dafür, dass einige Länder in der europäischen Nachbarschaft inzwischen für die Bereitschaft zur Übernahme von Kontrollaufgaben oder der Aufnahmen von Migrant*innen hohe Forderungen stellen können. Sie praktizieren damit eine umgekehrte Konditionalität und haben durch Möglichkeiten der Verweigerung oder Erpressung einen beträchtlichen Einfluss auf die europäische Grenzpolitik erlangt. Diese Fälle wirken sich natürlich auch auf die Verhandlungen anderer Staaten mit der EU aus.[23]

Inzwischen sind Migrationskontrollklauseln auch zu einem häufigen Merkmal von EU-Handelsabkommen mit Drittstaaten geworden, beschränken sich jedoch meist auf Länder in der Nachbarschaft der EU, denen Assoziierung oder Beitritt in Aussicht gestellt werden können. Um diese Länder zur Zusammenarbeit bei der Durchsetzung von Migrationsbestimmungen zu bewegen, setzt die EU also auch ihr stärkstes außenpolitisches Instrument, die Handelsabkommen, systematisch ein.[24] Sämtlich Analysen weisen auf die Grenzen der Fähigkeit der EU hin, ihre Ziele zu verwirklichen, unter anderem da sich die Verhandlungsdynamik mit den Drittstaaten nicht leicht kontrollieren lassen und drohen gänzlich zu scheitern. Vielfältige Gründe können zu einer Ablehnung von Kooperationsabkommen führen: die gemeinsame Geschichte des Kolonialismus, die Rücknahme der früheren visafreien Reisemöglichkeiten nach Europa sowie die Sorge von Drittstaaten in ihrer Region allein für die Rücknahme von illegalisierten Migrant*innen verantwortlich zu werden[25]. Diese Konstellationen belasteten die diplomatischen Beziehungen und verhinderten bisher häufig eine Einigung.

Der Versuch der weiteren Externalisierung von Migrationskontrollen hat letztlich, wenn auch unbeabsichtigt, die Position der so genannten “Transitstaaten” in der Migrationsdiplomatie gegenüber den EU-Mitgliedstaaten gestärkt und damit in eine neue Phase der umkämpften Externalisierung geführt.[26] Diese Praktiken eröffnen staatlichen Akteuren aus dem Globalen Süden Spielräume, um die Dominanz des Nordens herauszufordern[27]. Auch autoritäre Regime können damit zu „Ko-Designern“ eines kooperativen Migrationsmanagements werden und durch Verhandlungen mit ungewissem Ausgang den Einfluss der EU limitieren.[28] Dies widerspricht der im öffentlichen Diskurs verbreiteten Annahme, dass die EU ihre Bedingungen für eine Kooperation weitgehend diktieren könne, sofern sie nur bereit ist Geld in die Hand zu nehmen.

 

Duldung von Rechtsbrüchen und ihre Anfechtung

Dass sich trotz der bestehenden Externalisierungsmaßnahmen weiterhin Migrant*innen auch ohne Einreiseerlaubnis auf den Weg in die EU machen, weil ihnen und ihren Familien zum Beispiel politische Verfolgung, wirtschaftliche Aussichtslosigkeit und klimabedingte Vertreibung drohen, fassen diese Länder als Angriff auf ihre Souveränität auf und behandeln diese Menschen als Sicherheitsproblem[29]. Sie ergreifen härtere Maßnahmen und Restriktionen gegen Nicht-EU-Bürger*innen, die auch dem Ziel der Abschreckung dienen sollen. Dazu gehört neben der Einrichtung von überfüllten Lagern auch das Missachten von Notrufen auf Hoher See, die tage- oder wochenlangen Stand-Offs von Rettungsschiffen mit Geflüchteten an Bord, ehe ihnen ein sicherer Hafen zugewiesen wird, wie auch die dokumentierten Push-backs von Migrant*innen auf See oder an den griechischen Küsten, die systematisch mit europäischen und internationalen Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen brechen[30].

Da sich die EU-Staaten gleichzeitig weiter den Normen der Menschenwürde und des Flüchtlingsschutzes verpflichten und diese nach innen und außen einfordern, setzt an dieser Dissonanz heftige Kritik am Regierungshandeln an. Über Menschenrechtsdiskurse werden soziale Ordnungen von Bürger*innen, Organisationen und anderen Staaten als legitim oder nicht legitim evaluiert.[31] Dies passiert auch bei der europäischen Grenzpolitik, die sich Praktiken des Sterbenlassens[32] von Nicht-EU-Bürger*innen im Mittelmeer wie auch die Push-backs von Booten[33], die versuchen ohne Einreiseerlaubnis europäische Küsten zu erreichen, zu eigen gemacht hat: Rechtsbrüche durch Grenzschützer*innen an den EU-Außengrenzen werden, auch von der EU-Kommission, weitgehend geduldet und kaum sanktioniert.[34] Implizit, so der Vorwurf, erhoffen sich Regierungen durch das Unterlassen von Hilfe und das Herunterschrauben von Schutzstandards für Geflüchtete eine abschreckende Wirkung, die sich jedoch bisher empirisch nicht zeigt.[35] So entbehrt das Argument, dass durch das Sterbenlassen weitere Personen davon abgehalten würden, sich auf den Weg nach Europa zu machen, jeder empirischen Evidenz, da die geschätzten Zahlen, z.B. der Überfahrten auf seeuntauglichen Booten und die der Vermissten oder Toten, trotz solch menschenunwürdiger Maßnahmen in den letzten Jahren, nicht sinken.[36] Als bedrohlich und empörend wird in der Zivilgesellschaft jedoch wahrgenommen, dass die EU-Staaten die Rechtsbrüche diskursiv im Namen des Grenzschutzes und der -überwachung zu normalisieren versuchen.[37]

Seitdem der Preis für die Externalisierungsversuche offensichtlich wurde, weil es immer mehr Todesfälle an den Land- und Seegrenzen gab, wächst nicht nur die zivilgesellschaftliche Kritik, sondern auch die praktische Unterstützung für Menschen auf der Flucht. Ein besonders sichtbares Beispiel hierfür sind die zivilen Seenotrettungsorganisationen, die seit 2014/15 angetreten sind, um Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten, wenn zuständige staatliche Stellen dies nicht oder nicht in ausreichendem Maße tun. Sie versuchen der Externalisierung von Grenzkontrollen, etwa der Übertragung von Zuständigkeiten an die sogenannte libysche Küstenwache entgegen zu treten, indem sie sich selbst in diese Grenzräume begeben, die Situation vor Ort dokumentieren, Rettungen durchführen und auf Basis ihrer erworbenen Kenntnisse gegen das Handeln der europäischen Regierungen mobilisieren[38]. Diese Art des Aktivismus wurde auch als Gegen-Externalisierung (“counter-externalization“) bezeichnet[39], da er die gleiche räumliche Bewegung der Verlagerung nutzt, jedoch um explizit der staatlichen Externalisierung entgegenzuwirken.

Eine Forschungsgruppe zur Rolle der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer (ZivDem, Universität Bonn und Universität Münster)[40] untersucht zwischen 2022 und 2025, wie die Seenotrettungsorganisationen (SAR-NGOs) in diesem Grenzraum agieren und warum sich Menschen in unterschiedlichen europäischen Ländern für die zivile Seenotrettung engagieren, entweder innerhalb oder außerhalb der SAR-NGOs. Dabei sind die Seenotretter*innen selbst mit Kriminalisierungsversuchen durch staatliche Behörden konfrontiert und setzen sich zudem angesichts der Grenzgewalt, denen die Menschen in Seenot ausgesetzt sind, oft schwer erträglichen Situationen auf hoher See aus. Aus narrativen Interviews gerade mit jungen Menschen, die sich für die zivile Seenotrettung interessieren oder auch direkt engagieren, wissen wir, dass das Sichtbarwerden einer staatlichen Praxis des Sterbenlassens im Mittelmeer in den letzten 10 Jahren für viele zu einem entscheidenden Politisierungsmoment wurde. Es erfolgt ein Vertrauensbruch in den Rechtsstaat, wenn dieser nicht nach seinen eigenen Prinzipien handelt und deshalb heuchlerisch erscheint. Die Motivation sich zu engagieren und breite Allianzen u.a. mit Kirchen, Kommunen, Künstler*innen, Journalist*innen und der Politik zu suchen, speist sich für viele aus dem Widerspruch zwischen den Rechtsbrüchen an den Außengrenzen durch die EU und ihren eigenen Vorstellungen eines Europas, in dem sie selbst leben wollen oder zu leben geglaubt haben. Der daraus resultierenden zivilgesellschaftlichen Kritik lässt sich nicht mit dem zynischen Argument begegnen, dass durch eigene Rechtsbrüche Menschen abgehalten werden könnten, sich auf den Weg zu machen. Vielmehr folgt aus der Bereitschaft zum Rechtsbruch oder mindestens ihrer Duldung, dass sich diese externalisierte Grenzgewalt nach innen wendet. Vertrauen geht verloren, weil sich in der Zivilgesellschaft und unter ankommenden Geflüchteten die Erfahrung festsetzt, dass als unerwünscht kategorisierte Menschen, die in Not sind, nicht von staatlichen Stellen gerettet werden. Auch international wird die Praxis des Sterbenlassens wahrgenommen. So greifen Staaten außerhalb der EU mit Hinweis auf das Ertrinken von Migrant*innen und ihren Kindern diesen Umgang mit Schutzsuchenden auf, um darauf hinzuweisen, warum die EU hinsichtlich ihrer Menschenrechtsforderungen außenpolitisch unglaubwürdig sei.[41]

 

Fazit: Rechtsdurchsetzung statt weiterer Verlagerung des Flüchtlingsschutzes

Trotz der unintendierten, diplomatischen Nebeneffekte der Externalisierung und (der Kritik an) ihren tödlichen Folgen setzen viele europäische Regierungen auf weitere Externalisierungsmaßnahmen. Zuletzt fällt darunter die Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) und die Pläne für die Auslagerung von Verfahren in Drittstaaten, welche nicht nur die umstrittene Externalisierung von Kontrollen, sondern auch des Flüchtlingsschutzes selbst umfasst. Wie in diesem Kompendium vielfältig dargelegt wird, ist die Externalisierung von Grenzkontrollen, moralisch schon lange kritisierbar, nun auch an ihre praktischen Grenzen gestoßen. Sie ruht fortan auf einer Illusion, nämlich, dass die menschenunwürdige Behandlung von Nicht-EU-Staatsbürger*innen legitimiert werden könnte, wenn diese andere Migrant*innen effektiv immobilisiert. Weder werden Menschen dadurch von der Flucht aus bedrohlichen Situationen abgehalten, noch kann diese Aushebelung von Menschenrechten durch Grenzgewalt für „nicht genehme“ soziale Gruppen moralisch begründet werden. Längst steht für andere marginalisierte Gruppen zu befürchten, dass – wenn Rechtsbrüche gegenüber Geflüchteten Flüchtende möglich sind – sie die nächsten sein könnten. Es ist daher sowohl für die Politik als auch die Wissenschaft zentral, sich den Streit um Externalisierung anzusehen und die Folgen, die Unstimmigkeiten, Gewalt und verspieltes Vertrauen langfristig auch für die europäischen Gesellschaften haben, abzuschätzen.

Sowohl für den Flüchtlingsschutz, die legale Einreise als auch die Strafverfolgung von Personen und staatlichen Akteuren gelten in der EU Gesetze, die von den Parlamenten in Orientierung an dem Wert der Menschenwürde verabschiedet wurden. Auch für die Ahnung von Vertragsverletzungen stehen der EU-Kommission Instrumente zur Verfügung, um gegen Mitgliedstaaten, die sich ihrer Verantwortung für Schutzsuchende entziehen und gegen Flüchtlingsrecht verstoßen, vorzugehen. Zivilgesellschaftliche, außenpolitische wie auch rechtliche Bedenken mahnen zur menschenrechtskonformen Anwendung europäischen Rechts, statt neue symbolische aber sehr umstrittene operative Maßnahmen zu verabschieden, allein um Handlungsmacht zu signalisieren. Die Rechtsdurchsetzung sollte daher die politische Linie vorgeben, um nicht weitere Abhängigkeiten von Drittstaaten, Grenztote und einen Vertrauensverlust in den Rechtsstaat zu riskieren.

 

Fußnoten

[1] Mau, S., Brabandt, H., Laube, L., & Roos, C. (2012). Liberal States and the Freedom of Movement. Selective Borders, Unequal Mobility. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

[2] Mau, S., Gülzau, F., Laube, L., & Zaun, N. (2015). The Global Mobility Divide. How Visa Policies Have Evolved Over Time. Journal of Ethnic and Migration Studies, 41(8), 1192-1213. doi:10.1080/1369183X.2015.1005007,

[3] Pichl, M. (2024). Drittstaatskonzepte und beschleunigte Asylverfahren – wie der materielle Flüchtlingsschutz ausgehöhlt wird. In: Ulrike Krause und Christiane Fröhlich (Hg). Externalizing Asylum: A compendium of scientific knowledge, online publiziert auf externalizingasylum.info

[4] Dijstelbloem, H., & Broeders, D. (2015). Border surveillance, mobility management and the shaping of non-publics in Europe. European Journal of Social Theory, 18(1), 21-38. doi:10.1177/1368431014534353

[5] Rausis, F., & Lavenex, S. A Taxonomy of Externalization Policies. In: Ulrike Krause und Christiane Fröhlich (Hg). Externalizing Asylum: A compendium of scientific knowledge, online publiziert auf externalizingasylum.info

[6] Laube, L. (2019). The Relational Dimension of Externalizing Border Control. Selective Visa Policies in Migration and Border Diplomacy. Comparative Migration Studies, 7(1), 1-22. doi:10.1186/s40878-019-0130-x

[7] Mau, S. (2021). Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. München: C.H.Beck.

[8] Lessenich, S. (2018). Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben. München: Piper.

[9] Salter, M. (2004). Passports, Mobility, and Security: How smart can the border be? International Studies Perspectives, 5(1), 71-91.

[10] UNHCR, https://www.unhcr.org/dach/de/ueber-uns/zahlen-im-ueberblick

[11] Hess, S., Kasparek, B., Kron, S., Rodatz, M., Schwertl, M., & Sontowski, S. (2017). Der lange Sommer der Migration (Vol. 2). Berlin: Assoziation A.

[12] Laube, L. (2021). Diplomatic Side-Effects of the EU’s Externalization of Border Control and the Emerging Role of “Transit States” in Migration Diplomacy. Historical Social Research, 46(3), 78-105. doi:10.12759/hsr.46.2021.3.78-105

[13] Trauner, F. (2024). Warum europäische Informationskampagnen MigrantInnen nicht davon abhalten, nach Europa zu kommen. In: Ulrike Krause und Christiane Fröhlich (Hg). Externalizing Asylum: A compendium of scientific knowledge, online publiziert auf externalizingasylum.info

[14] Weisner, Z., Vidal, P., Kraler, A., & Czaika, M. (2024). Trust in Transit: External Migration Control and Migrants’ Perceptions of Humanitarian Borderwork in the Sahel. International Migration Review. Online first.

[15] Cuttitta, P., & Last, T. (2019). Border Deaths. Causes, Dynamics and Consequences of Migration-related Mortality. Amsterdam: Amsterdam University Press.

[16] Cobarrubias, S., Cuttitta, P., Casas-Cortés, M., Lemberg-Pedersen, M., El Qadim, N., İşleyen, B., Fine, S., Guisa, C. und Heller, C. (2023). Interventions on the concept of externalisation in migration and border studies. Political Geography, 2-10. doi:10.1016/j.polgeo.2023.102911

[17] Stamp, J. https://www.joachimstamp.de/irregulaere-migration-reduzieren-regulaere-staerken

[18] Stock, I., Üstübici, A., & Schultz, S. U. (2019). Externalization at Work. Responses to Migration Policies from the Global South. Comparative Migration Studies, 7(1). doi:10.1186/s40878-019-0157-z

[19] Adamson, F. B., & Tsourapas, G. (2019). Migration Diplomacy in World Politics. International Studies Perspectives, 20(2), 113-128. doi:10.1093/isp/eky015

[20] Frowd, P. M. (2019). Producing the ‘Transit’ Migration State. International Security Intervention in Niger. Third World Quarterly, 41(2), 340-358. doi:10.1080/01436597.2019.1660633

[21] Laube, L. (2019).

[22] https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-erdogan-droht-eu-wegen-kritik-an-offener-grenze-fuer-fluechtlinge-a-1290884.html

[23] Adamson, F. B., & Tsourapas, G. (2019). The Migration State in the Global South. Nationalizing, Developmental, and Neoliberal Models of Migration Management. International Migration Review, 54(3), 853-882. doi:10.1177/0197918319879057

[24] Hoffmeyer-Zlotnik, P., Lavenex, S., & Lutz, P. (2023). The Limits of EU Market Power in Migration Externalization: Explaining Migration Control Provisions in EU Preferential Trade Agreements. Journal of Common Market Studies, 1-28. doi:10.1111/jcms.13563

[25] Laube, L. (2019).

[26] Laube, L. (2021).

[27] El Qadim, N. (2014). Postcolonial challenges to migration control: French–Moroccan cooperation practices on forced returns. Security Dialogue, 45(3), 241-261.

[28] Bruns, B., Happ, D., & Zichner, H. (2016). European neighbourhood policy : geopolitics between integration and security. In. London: Palgrave Macmillan.

[29] Moreno-Lax, V. (2018). The EU Humanitarian Border and the Securitization of Human Rights. The ‘Rescue-Through-Interdiction/Rescue-Without-Protection’ Paradigm*. Journal of Common Market Studies, 56(1), 119-140. doi:10.1111/jcms.12651.

[30] Farahat, A., & Markard, N. (2020). Places of Safety in the Mediterranean. The EU’s Policy of Outsourcing Responsibility. Brussels: Heinrich-Böll-Stiftung.

[31] Faist, T. (2024). Externalisation: Contested Migration Control. In: Ulrike Krause und Christiane Fröhlich (Hg). Externalizing Asylum: A compendium of scientific knowledge, online publiziert auf externalizingasylum.info

[32] Gebhardt, M. (2020). To Make Live and Let Die. On Sovereignty and Vulnerability in the EU Migration Regime. Redescriptions. Political Thought, Conceptual History and Feminist Theory, 23(2), 120-137. doi:10.33134/rds.323

[33] Pro Asyl, https://www.proasyl.de/grenzenlose-gewalt/

[34] Stierl, M., & Dadusc, D. (2021). The “Covid excuse”: EUropean border violence in the Mediterranean Sea. Ethnic and racial studies, 45(8), 1453-1474. doi:10.1080/01419870.2021.1977367

[35] Angenendt, S., Biehler, N., Koch, A., Kipp, D., & Bossong, R. (2024). Die Externalisierung des europäischen Flüchtlingsschutzes. SWP Aktuell 2024/ A12.

[36] Uno Flüchtlingshilfe, https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/mittelmeer

[37] Sea Watch, https://www.facebook.com/seawatchprojekt/videos/a-strong-message-in-solidarity-with-people-on-the-move/553214512676513/,

[38] Laube, L., & Ullrich, M. (2023). Search and rescue NGOs as a focal point in debates on the reception of refugees in the EU. Research essay on an Italian and German case study. Culture, Practice & Europeanization, 8(2), 166-182. doi:10.5771/2566-7742-2023-2-166

[39] Cuttitta, P. (2022). Over Land and Sea. NGOs/CSOs and EU Border Externalisation Along the Central Mediterranean Route. Geopolitics, 1-27. doi:10.1080/14650045.2022.2124158

[40] Forschungsgruppe “Zivile Seenotrettung als Kristallisationspunkt des Streits um Demokratie“, gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung, https://www.fiw.uni-bonn.de/demokratieforschung/de/zivdem

[41] Laube, L. (2021).